Schlaflos - Insomnia
würde neue Medizin bekommen - Tabletten, die teuer waren, ja, aber gleichzeitig wunderbar.
»Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, Mr. Roberts«, sagte Dr. Jamal.
»Nein«, sagte Ralph. »Das dürfen wir nicht. Wird so etwas noch einmal vorkommen, Dr. Jamal?«
Dr. Jamal lächelte. Er sprach mit einer leisen Stimme, die durch seinen sanften indischen Akzent noch tröstlicher wirkte. Und obwohl Dr. Jamal ihm nicht frei heraus sagte, dass Carolyn sterben würde, kam er der Wahrheit näher als jeder andere in diesem langen Jahr, in dem sie um ihr Leben gekämpft hatte. Die neuen Medikamente, sagte Jamal, würden wahrscheinlich weitere Anfälle verhindern, aber ihr Zustand hätte ein Stadium erreicht, wo alle Prognosen »mit Vorsicht zu genießen« seien. Unglücklicherweise
wuchs der Tumor trotz aller ergriffenen Gegenmaßnahmen weiter.
»Als Nächstes könnten sich motorische Probleme zeigen«, sagte Dr. Jamal mit seiner tröstlichen Stimme. »Und ich fürchte, das Augenlicht hat nachgelassen.«
»Kann ich die Nacht bei ihr verbringen?«, fragte Ralph leise. »Sie wird besser schlafen, wenn ich da bin.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und ich auch.«
»Selbstverständlich«, sagte Dr. Jamal strahlend. »Das ist eine gute Idee!«
»Ja«, sagte Ralph niedergeschlagen. »Das finde ich auch.«
6
Und so saß er neben seiner schlafenden Frau, lauschte dem Ticken, das nicht in den Wänden war, und dachte: Eines nicht allzu fernen Tages - vielleicht diesen Herbst, vielleicht diesen Winter - werde ich wieder mit ihr in diesem Zimmer sein. Das schien keine Spekulation zu sein, sondern eine Prophezeiung, und er beugte sich hinüber und legte den Kopf auf das weiße Laken, das die Brust seiner Frau bedeckte. Er wollte nicht wieder weinen, konnte es aber trotzdem nicht verhindern.
Das Ticken. So laut und konstant.
Ich würde gern zu fassen bekommen, was dieses Geräusch macht, dachte er. Ich würde es zertreten, bis es nur noch aus vielen auf dem Boden verstreuten Scherben besteht. Gott ist mein Zeuge, dass ich es tun würde.
Kurz nach Mitternacht schlief er auf seinem Stuhl ein, und als er am nächsten Morgen aufwachte, war es so kühl
wie seit Wochen nicht mehr, und Carolyn war wach, bei Sinnen und strahlte. Sie machte den Eindruck, als wäre sie gar nicht krank. Ralph nahm sie mit nach Hause und begann mit der nicht unerheblichen Aufgabe, ihr die letzten Monate so angenehm wie möglich zu machen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder an Ed Deepneau dachte; selbst als er die Blutergüsse in Helen Deepneaus Gesicht sah, dauerte es eine ganze Weile, bis er wieder an Ed dachte.
Als der Sommer zum Herbst wurde und der Herbst Carolyns letztem Winter entgegendämmerte, wurden Ralphs Gedanken immer mehr von der Todesuhr beherrscht, die lauter und lauter zu ticken schien, obwohl sie langsamer wurde.
Aber er hatte keine Probleme zu schlafen.
Das kam erst später.
ERSTER TEIL
Kleine kahlköpfige Ärzte
Es existiert ein Abgrund zwischen jenen,
die schlafen können, und jenen, die es nicht können.
Das ist eine der großen
Unterscheidungen der menschlichen Rasse.
IRIS MURDOCH
Nonnen und Soldaten
Kapitel 1
1
Etwa einen Monat nach dem Tod seiner Frau litt Ralph Roberts zum ersten Mal in seinem Leben an Schlaflosigkeit.
Das Problem war anfangs noch unerheblich, aber es wurde immer schlimmer. Sechs Monate nach den ersten Störungen seines bis dahin ungetrübten Schlafzyklus hatte Ralph einen Zustand des Elends erreicht, den er kaum glauben, geschweige denn akzeptieren konnte. Gegen Ende des Sommers 1993 fragte er sich, wie es sein würde, seine verbleibenden Jahre auf Erden in einem stieräugigen, benebelten Zustand des Wachseins zu verbringen. Selbstverständlich würde es nicht so weit kommen, sagte er sich, es kommt nie so weit.
Aber stimmte das? Er wusste es wirklich nicht, das war das Teuflische daran, und die Bücher zum Thema, die ihm Mike Hanlon in der öffentlichen Bücherei von Derry gab, halfen ihm nicht viel weiter. Es gab mehrere über Schlafstörungen, aber sie schienen einander zu widersprechen. Manche nannten Schlaflosigkeit ein Symptom, andere eine Krankheit, und mindestens eines einen Mythos. Das Problem war aber weitaus größer; soweit Ralph den Büchern entnehmen konnte, schien sich niemand hundertprozentig sicher zu sein, was Schlaf an sich überhaupt war, wie er funktionierte und was er bewirkte.
Er wusste, er sollte aufhören, den Amateurforscher zu spielen, und zum Arzt gehen, aber
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