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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gewesen als »herumwerkeln«, aber Strafe wofür? Dass er vor der Dämmerung aufwachte?
    Ralph wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Die Arbeit im Garten beanspruchte einen erheblichen Teil des Nachmittags, sie lenkte ihn von Dingen ab, über die er lieber nicht nachdenken wollte, und das reichte aus, die schmerzenden Muskeln und die gelegentlich vor seinen Augen tanzenden schwarzen Punkte zu rechtfertigen. Er begann seine ausgiebigen Ausflüge in den Garten kurz nach dem vierten Juli und setzte sie den ganzen August hindurch fort, lange, nachdem das Frühgemüse geerntet und das Spätgemüse durch die Dürre hoffnungslos vertrocknet war.
    »Du solltest damit aufhören«, sagte Bill McGovern eines Abends zu ihm, als sie auf der Veranda saßen und Limonade tranken. Es war Mitte August, und Ralph wachte nun jeden Morgen gegen 3.30 Uhr auf. »Das ist bestimmt nicht gut für deine Gesundheit. Schlimmer, du siehst wie ein Geisteskranker aus.«

    »Vielleicht bin ich geisteskrank«, antwortete Ralph kurz angebunden, und sein Tonfall, oder der Ausdruck in seinen Augen, musste überzeugend gewesen sein, denn McGovern wechselte das Thema.

2
    Er fing wieder an, spazieren zu gehen - nicht die Marathons von 1992, aber normalerweise schaffte er zwei Meilen täglich, wenn es nicht regnete. Seine übliche Route führte ihn zum pervers benannten Up-Mile Hill, zur öffentlichen Bücherei von Derry und dann zu Back Pages, einem Antiquariat und Zeitschriftenladen an der Ecke Witcham und Main.
    Back Pages stand neben einem vollgestopften Trödlerladen namens Secondhand Rose, Secondhand Clothes, und als er eines Tages im August seines Missvergnügens an diesem Geschäft vorbeiging, sah Ralph ein neues Plakat zwischen veralteten Ankündigungen von Bohnenmahlzeiten und uralten Kirchentreffen - so aufgeklebt, dass es etwa die Hälfte eines vergilbten Pat-Buchanan-for-President-Plakats verdeckte.
    Die Frau auf den beiden Fotos im oberen Teil des Plakats war eine hübsche Blondine Ende dreißig oder Anfang vierzig, aber der Stil der Fotos - ernste Totale links, ernstes Profil rechts, bei beiden ein nüchterner weißer Hintergrund - war so beunruhigend, dass Ralph wie angewurzelt stehen blieb. Auf den Fotos sah die Frau aus, als gehörte sie an die Wand eines Postamts oder in ein Fernseh-Dokudrama … und das war, wie der Text des Plakats deutlich machte, kein Zufall.

    Die Fotos hatten ihn stehen bleiben lassen, aber es war der Name der Frau, der ihn fesselte.
    GESUCHT WEGEN MORDES SUSAN EDWINA DAY
    stand in großen schwarzen Buchstaben am oberen Rand. Und unter den simulierten Fahndungsfotos, in Rot:
    BLEIB AUS UNSERER STADT WEG!
    Ganz unten auf dem Plakat stand noch eine Zeile Kleingedrucktes. Ralphs Sehvermögen hatte seit Carolyns Tod ziemlich nachgelassen - war mit Pauken und Trompeten zum Teufel gegangen wäre vielleicht ein zutreffenderer Ausdruck gewesen -, daher musste er sich nach vorn beugen, bis seine Stirn die schmutzige Scheibe von Secondhand Rose, Secondhand Clothes berührte, bevor er sie entziffern konnte:
    Bezahlt vom Maine Life Watch Komitees.
    Weit hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme: Hey, hey, Susan Day! How many kids did you kill today?
    Susan Day, entsann sich Ralph, war eine politische Aktivistin entweder aus New York oder aus Washington, die Art von schnell redender Frau, die Taxifahrer, Friseure und Bauarbeiter mit Helmen regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Aber er konnte nicht sagen, warum ihm gerade dieser spezielle Knittelvers in den Sinn gekommen war; er erinnerte ihn an irgendetwas, das ihm nicht einfallen wollte.
Vielleicht wandelte sein müder, alter Verstand einfach nur den alten Protestspruch aus den Sechzigerjahren ab, der gelautet hatte: Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?
    Nein, das ist es nicht, dachte er. Nahe dran, aber kein Treffer. Es war …
    Kurz bevor sein Gehirn den Namen Ed Deepneau ausspucken konnte, sagte eine Stimme fast unmittelbar neben ihm: »Erde an Ralph, Erde an Ralph, bitte kommen, Ralphie-Baby!«
    Das riss ihn aus seinen Gedanken, und Ralph drehte sich zu der Stimme um. Erschrocken und amüsiert zugleich stellte er fest, dass er fast im Stehen eingeschlafen war. Herrgott, dachte er, man weiß nie, wie wichtig Schlaf ist, bis man zu wenig davon bekommt. Dann kippt auf einmal der Boden, und alle Ecken werden irgendwie rund.
    Es war Hamilton Davenport, der Inhaber von Back Pages, der ihn angesprochen hatte. Er bestückte den Büchereiwagen, den er

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