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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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… und fast unerträglicher Schönheit.
    Sie sieht aus wie Eos, dachte er. Die Göttin der Morgenröte.
    Lois rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Ralph? Warum siehst du mich so an?«
    Weil du wunderschön bist, und weil ich mich in dich verliebt habe, dachte Ralph erstaunt. Im Augenblick liebe ich dich so sehr, dass ich glaube, ich ertrinke, und das Sterben ist schön.
    »Weil du dich genau daran erinnerst, was du gesagt hast.«

    Sie spielte wieder nervös mit dem Verschluss ihrer Handtasche. »Nein, ich …«
    »O doch. Du hast deiner Schwiegertochter gesagt, dass sie deine Ohrringe weggenommen hat. Sie hat es getan, weil sie gemerkt hat, dass du nicht nachgeben und mit ihnen kommen würdest, und wenn sie nicht bekommt, was sie will, macht es deine Schwiegertochter verrückt … dann explodiert sie. Sie hat es getan, weil du ihr auf die Nerven gegangen bist. Kommt das nicht ungefähr hin?«
    Lois sah ihn mit runden, ängstlichen Augen an. »Woher weißt du das, Ralph? Woher kannst du das so genau über sie wissen?«
    »Ich weiß es, weil du es weißt, und du weißt es, weil du es gesehen hast.«
    »O nein«, flüsterte sie. »Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war die ganze Zeit mit Harold in der Küche.«
    »Nicht da , nicht als sie es getan hat, sondern als sie wiederkam. Du hast es in ihr und um sie herum gesehen.«
    So wie er jetzt Harold Chasses Frau in Lois sah, als wäre die Frau, die neben ihm saß, eine optische Linse geworden. Janet Chasse war groß, hatte helle Haut und ihr Oberkörper war länger als die Beine. Auf den Wangen hatte sie Sommersprossen, die sie mit Make-up abdeckte, und ihr Haar war von einem lebhaften ingwerfarbenen Rot. An diesem Morgen, als sie nach Derry kam, lag dieses sagenhafte Haar zum dicken Zopf geflochten wie Kupferdraht auf ihrer Schulter. Was wusste er sonst noch von dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte?
    Alles, alles.
    Sie überdeckt ihre Sommersprossen mit Schminke, weil sie findet, dass sie kindlich damit aussieht; dass die Leute
Frauen mit Sommersprossen nicht ernst nehmen. Ihre Beine sind wunderschön, und das weiß sie. Sie trägt kurze Röcke zur Arbeit, aber als sie heute gekommen ist, um
    (die alte Kuh)
    Mutter Lois zu besuchen, trug sie einen Wollpullover und ein Paar alte Jeans. Die legere Derry-Garderobe. Ihre Periode ist überfällig. Sie hat den Abschnitt ihres Lebens erreicht, wo sie nicht mehr regelmäßig wie ein Uhrwerk kommt, und in den beunruhigenden zwei oder drei Tagen, die sie jeden Monat ertragen muss, einem Zeitraum, wo die ganze Welt aus Glas und jedermann entweder dumm oder gemein zu sein scheint, sind ihr Verhalten und ihre Stimmung launisch geworden. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb sie es getan hat.
    Ralph sah sie aus Lois’ winzigem Badezimmer kommen. Sah sie einen stechenden, wütenden Blick zur Küchentür werfen - jetzt war nichts mehr von dem ach so zuckersüßen Unschuldslächeln in dem schmalen, angespannten Gesicht zu sehen -, und dann die Ohrringe von dem Porzellanteller nehmen. Sah, wie sie sie in die linke vordere Tasche ihrer Jeans steckte.
    Nein, Lois hatte diesen kleinen, hässlichen Diebstahl tatsächlich nicht gesehen, aber er hatte die Aura von Jan Chasse von der blassen hellgrünen Farbe in ein komplexes, vielschichtiges Muster aus Braun- und Rottönen verwandelt, das Lois gesehen und wahrscheinlich augenblicklich verstanden hatte, wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, was tatsächlich mit ihr geschah.
    »Ja, sie hat sie genommen«, sagte Ralph. Er konnte sehen, wie grauer Nebel verträumt über die Pupillen von
Lois’ aufgerissenen Augen driftete. Er hätte sie den Rest des Tages ansehen können.
    »Ja, aber …«
    »Wenn du doch noch eingewilligt hättest, Riverside Estates zu besuchen, hättest du sie garantiert nach ihrem nächsten Besuch wiedergefunden … oder sie hätte sie gefunden, was wahrscheinlicher ist. Nur ein glücklicher Zufall - ›Oh, Mutter Lois, sieh mal, was ich gefunden habe!‹ Unter dem Waschbecken im Bad, in einem Schrank oder in einer dunklen Ecke.«
    »Ja.« Jetzt sah sie ihm fasziniert ins Gesicht, fast hypnotisiert. »Sie muss sich schrecklich fühlen … und sie wird nicht wagen, sie zurückzubringen, oder? Nicht nach allem, was ich gesagt habe. Ralph, wie hast du das herausbekommen?«
    »So, wie du es herausbekommen hast. Wie lange siehst du die Auren schon, Lois?«

4
    »Auren? Ich weiß nicht, was du meinst.« Aber sie wusste es.
    »Litchfield hat deinem Sohn

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