Schlaflos - Insomnia
der Veranda und sah zu, wie Lois vom Rücksitz ausstieg. Man sagte sich Auf Wiedersehen, und mädchenhaftes, munteres Gelächter wurde ihm mit dem Wind zugetragen.
Der Lincoln fuhr weg, und Lois ging den Fußweg zu ihrem Haus entlang. Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich um. Eine ganze Weile betrachteten die beiden sich von ihren gegenüberliegenden Positionen auf der Harris Avenue und sahen trotz der hereinbrechenden Dunkelheit und der zweihundert Schritte, die sie voneinander trennten, ausgezeichnet. Sie leuchteten in dieser Dunkelheit füreinander wie geheime Fackeln.
Lois deutete mit dem Finger auf ihn. Die Geste ähnelte der, mit der sie auf Doc Nr. 3 geschossen hatte, aber das beunruhigte Ralph nicht im Geringsten.
Absicht, dachte er verträumt. Alles liegt in der Absicht. Es gibt wenige Fehler auf dieser Welt … und wenn man sich erst einmal auskennt, gibt es vielleicht gar keine Fehler mehr.
Ein schmaler, grau leuchtender Energiestrahl kam aus Lois’ Finger und bahnte sich einen Weg durch die dunkler werdenden Schatten der Harris Avenue. Ein vorbeifahrendes Auto durchquerte ihn unbeschadet. Die Fenster des Autos leuchteten kurz grell und grau auf, und die Scheinwerfer schienen einen Moment zu flackern, aber das war alles.
Ralph hob ebenfalls einen Finger, aus dem ein blauer Strahl hervorschoss. Diese beiden gebündelten Lichtstrahlen trafen sich in der Mitte der Harris Avenue und schlangen sich umeinander wie Wilder Wein. Der geflochtene Zopf stieg immer höher und höher, wobei er leicht verblasste. Dann krümmte Ralph den Finger, und seine Hälfte des Liebesknotens in der Mitte der Harris Avenue löste sich funkelnd auf. Einen Moment später erlosch Lois’ Hälfte ebenfalls. Ralph ging langsam die Verandatreppe hinunter und über seinen Rasen. Lois kam ihm entgegen. Sie trafen sich mitten auf der Straße … wo sie einander in einem durchaus realen Sinne bereits getroffen hatten.
Ralph legte die Arme um ihre Taille und küsste sie.
2
Du siehst verändert aus, Roberts. Irgendwie jünger.
Diese Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn - sie wiederholten sich wie eine Endlosbandschleife -, während Ralph in Lois’ Küche saß und Kaffee trank. Er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Sie sah locker zehn Jahre jünger und zehn Pfund leichter als die Lois aus, an die er sich in den vergangenen Jahren gewöhnt hatte. Hatte
sie heute Morgen im Park schon so jung und hübsch ausgesehen? Ralph glaubte es nicht, aber selbstverständlich war sie heute Morgen durcheinander gewesen und hatte geweint, und er vermutete, dass das schon etwas ausmachte.
Dennoch …
Ja, dennoch. Das Netz winziger Fältchen um ihren Mund herum war verschwunden. Ebenso die beginnenden Truthahnhautfalten am Hals und das erschlaffte Fleisch an den Oberarmen. Heute Morgen hatte sie geweint, und heute Abend strahlte sie vor Glück, aber Ralph wusste, das konnte unmöglich alle Veränderungen erklären, die er sah.
»Ich weiß, was du siehst«, sagte Lois. »Es ist unheimlich, nicht? Ich meine, es beantwortet die Frage, ob wir uns alles nur eingebildet haben oder nicht, aber es ist trotzdem unheimlich. Wir haben den Jungbrunnen gefunden. Vergiss Florida; er ist die ganze Zeit hier in Derry gewesen.«
» Wir haben ihn gefunden?«
Einen Augenblick sah sie nur überrascht aus … und ein wenig argwöhnisch, als würde sie denken, dass er sie auf den Arm nahm, sich über sie lustig machte. Sie als »unsere Lois« behandelte. Dann streckte sie die Hand über den Tisch aus und drückte seine. »Geh ins Bad. Schau dich an.«
»Ich weiß, wie ich aussehe. Verdammt, ich habe mich gerade eben erst rasiert. Und ich habe mir dabei richtig Zeit gelassen.«
Sie nickte. »Du hast es gut gemacht, Ralph … aber es geht hier nicht um deinen Fünf-Uhr-Bartschatten. Schau dich nur an.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte sie nachdrücklich. »Mein voller Ernst.«
Er war fast an der Tür angelangt, als sie sagte: »Du hast dich nicht nur rasiert, du hast auch das Hemd gewechselt. Das ist gut. Ich wollte nichts sagen, aber das karierte war zerrissen.«
»Tatsächlich?«, sagte Ralph. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, sodass sie sein Lächeln nicht sehen konnte. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
3
Er stand mit auf das Waschbecken gestützten Händen vor dem Spiegel und betrachtete sein Gesicht fast zwei Minuten lang. So lange brauchte er, um sich einzugestehen, dass er wirklich sah, was er zu sehen glaubte. Die schwarzen, wie
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