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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Krähenfedern glänzenden Strähnen in seinem Haar waren erstaunlich genug, ebenso die Tatsache, dass die hässlichen Tränensäcke unter seinen Augen verschwunden waren, aber er kam nicht darüber hinweg, wie die Linien und tiefen Runzeln auf seinen Lippen sich geglättet hatten. Es war eine Kleinigkeit … aber es war auch etwas Gigantisches. Er sah den Mund eines jungen Mannes. Und …
    Plötzlich steckte sich Ralph einen Finger in den Mund und fuhr an der rechten unteren Zahnreihe entlang. Er konnte sich nicht völlig sicher sein, aber ihm schien, als wären sie länger, als wäre ein Teil der Abnutzung rückgängig gemacht worden.
    »Ach du Scheiße«, murmelte Ralph, und seine Gedanken kehrten zu jenem drückend heißen Tag im vergangenen
Sommer zurück, als er Ed Deepneau in dessen Vorgarten gegenübergetreten war. Ed hatte ihn zuerst gebeten, sich einen Stuhl zu schnappen, und ihm dann eröffnet, dass Derry von bösen, babytötenden Kreaturen heimgesucht wurde. Lebensstehlenden Kreaturen. Alle Kraftlinien laufen hier zusammen, hatte Ed ihm gesagt. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.
    Ralph stellte fest, dass es immer leichter zu glauben war. Immer schwerer zu glauben fiel ihm dagegen, dass Ed verrückt sein sollte.
    »Wenn das nicht aufhört«, sagte Lois von der Tür und erschreckte ihn, »müssen wir heiraten und die Stadt verlassen, Ralph. Simone und Mina konnten - buchstäblich - den Blick nicht von mir abwenden. Ich habe ihnen eine Menge Blödsinn über ein neues Make-up erzählt, das ich angeblich im Einkaufszentrum gekauft habe, aber sie haben es nicht geschluckt. Ein Mann hätte es, aber eine Frau weiß, was man mit Make-up erreichen kann. Und was nicht.«
    Sie gingen in die Küche zurück, und obwohl die Auren vorläufig wieder verschwunden waren, stellte Ralph fest, dass er doch eine sehen konnte: eine Röte, die aus dem Kragen von Lois’ weißer Seidenbluse aufstieg.
    »Schließlich erzählte ich ihnen das Einzige, das sie glauben würden .«
    »Und das wäre?«, fragte Ralph.
    »Ich sagte, ich hätte einen Mann kennengelernt.« Sie zögerte, und als das aufsteigende Blut ihre Wangen erreicht und rosa gefärbt hatte, kam sie zur Sache. »Und dass ich mich in ihn verliebt hätte.«
    Er berührte sie am Arm und drehte sie zu sich um. Er betrachtete die kleine, saubere Falte in ihrer Ellbogenbeuge
und überlegte sich, wie gern er sie mit dem Mund berühren würde. Oder mit der Zungenspitze. Dann sah er ihr in die Augen. »Und ist es wahr?«
    Sie erwiderte den Blick mit Augen voll Hoffnung und Offenheit. »Ich denke schon«, sagte sie mit leiser, klarer Stimme, »aber alles ist jetzt so seltsam. Ich weiß nur mit Sicherheit, ich möchte , dass es wahr ist. Ich möchte einen Freund haben. Ich bin schon eine ganze Weile ängstlich und unglücklich und einsam. Die Einsamkeit ist das Schlimmste am Älterwerden, glaube ich - nicht die Leiden und Schmerzen, nicht die launenhaften Gedärme oder, dass man kurzatmig ist, wenn man eine Treppe hinaufgehen musste, die man mit zwanzig hinauf geflogen wäre, sondern die Einsamkeit.«
    »Ja«, sagte Ralph. »Das ist das Schlimmste.«
    »Niemand redet mehr mit einem - oh, sie sagen manchmal etwas zu einem, aber das ist nicht dasselbe -, und meistens ist es, als würden die Leute einen nicht mal sehen . Ist es dir nicht auch schon so gegangen?«
    Ralph dachte an das Derry der Altsemester, eine Stadt, die von der Schnell-zur-Arbeit-Schnell-zum-Spiel-Welt ringsum weitgehend ignoriert wurde, und nickte.
    »Ralph, würdest du mich in den Arm nehmen?«
    »Mit Vergnügen«, sagte er, und zog sie sanft in seine Umarmung.

4
    Einige Zeit später saßen Ralph und Lois zerzaust und benommen, aber glücklich auf der Couch im Wohnzimmer, ein derart rigoros hobbitgroßes Möbelstück, dass es eigentlich kaum mehr als ein Zweiersofa war. Den beiden machte es nichts aus. Ralph hatte Lois einen Arm um die Schultern gelegt. Sie hatte ihr Haar aufgemacht, und er drehte eine Locke davon in seinen Fingern und dachte darüber nach, wie leicht man vergaß, wie sich Frauenhaar anfühlte - so herrlich anders als Männerhaare. Sie hatte ihm von ihrer Kartenpartie erzählt, und Ralph hatte aufmerksam zugehört, erstaunt, aber, wie er feststellte, nicht überrascht.
    Etwa ein Dutzend Frauen spielten regelmäßig jede Woche im Ludlow Grange um kleine Summen. Es war möglich, dass man mit fünf Dollar Verlust oder zehn Dollar Gewinn nach Hause ging, aber meistens lag man bei

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