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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wusste nicht genau, was sie übermitteln wollte - es war, als würde man jemanden in einer schalldichten Kabine sprechen sehen -, aber er spürte Erleichterung und ein tief empfundenes Unbehagen … die Art von Unbehagen, die Menschen empfinden können, wenn sie denken, sie sind bei etwas beobachtet worden, das sie nicht tun sollten. Ihr zweifelnder Blick ruhte noch einen Moment auf seinem Gesicht, dann drehte sie sich um und ging hastig den Flur entlang auf ein Schild zu mit der Aufschrift NEUROLOGISCHE UNTERSUCHUNG. Das graue Gitter,
das Lois zur Tür geschleudert hatte, wurde dünner, und als die Tür sich wieder schließen wollte, schnitt sie es sauber durch. Die Kabine setzte ihre langsame Aufwärtsfahrt fort.
    [»Ralph … Ralph, ich glaube, ich weiß, was mit dem Baby passiert ist.«]
    Sie streckte die rechte Hand nach seinem Gesicht aus und schob sie mit der Handfläche nach unten zwischen seine Nase und seinen Mund. Sie presste den Daumenballen behutsam gegen einen seiner Wangenknochen und den Zeigefinger leicht gegen den anderen. Das geschah so schnell und selbstsicher, dass es sonst niemand im Fahrstuhl bemerkte. Und selbst wenn einem der drei anderen Mitfahrer etwas aufgefallen wäre, sie hätten nur eine ordnungsliebende Ehefrau gesehen, die einen Tropfen Hautcreme oder ein Klümpchen Rasierschaum wegwischte.
    Ralph war, als hätte jemand einen Starkstromschalter in seinem Gehirn gedrückt, der ganze Stadionflutlichter einschaltete. In deren grellem, kurz aufblitzendem Licht sah er ein Bild des Grauens: Hände in einer brutalen Aura von braunstichigem Purpur, die in eine Wiege griffen und das Baby herauszogen, das er und Lois gerade gesehen hatten. Es wurde hin und her geschüttelt, der Kopf rollte und nickte auf dem dünnen Hals wie der einer Raggedy-Andy-Stoffpuppe …
    … und es wurde geworfen …
    Da wurden die Lichter in seinem Kopf schwarz, und Ralph stieß einen harschen, bebenden Seufzer der Erleichterung aus. Er dachte an die Abtreibungsgegner, die er am vergangenen Abend in den Nachrichten gesehen hatte, Männer und Frauen mit Spruchbändern, auf denen das
Bild von Susan Day zu sehen war und WEGEN MORDES GESUCHT stand, Männer und Frauen im Gewand des Sensenmannes, Männer und Frauen mit einem Transparent, auf dem man lesen konnte: LEBEN, WAS FÜR EINE WUNDERBARE ENTSCHEIDUNG.
    Er fragte sich, ob das behinderte Baby dazu nicht vielleicht eine andere Meinung hatte. Er sah Lois’ fassungslosen, gequälten Blick und tastete nach ihrer Hand.
    [»Der Vater hat es getan, richtig? Er hat das Kind gegen die Wand geworfen.«]
    [»Ja. Das Baby hat nicht aufgehört zu schreien.«]
    [»Und sie weiß es. Sie weiß es, aber sie hat es keinem gesagt.«]
    [»Nein … doch möglicherweise tut sie es, Ralph. Sie denkt darüber nach.«]
    [»Vielleicht wartet sie auch, bis er es wieder tut. Und nächstes Mal bringt er es vielleicht zu Ende.«]
    Da kam Ralph ein schrecklicher Gedanke; er schoss wie ein Meteor, der kurzzeitig ein Feuer am mitternächtlichen Sommerhimmel entzündet, durch seinen Geist: Möglicherweise war es besser, wenn er es zu Ende brachte. Die Ballonschnur des behinderten Babys war nur ein Stummel gewesen, aber ein gesunder Stummel. Der Junge lebte vielleicht noch jahrelang, sah Leute kommen und gehen wie Bäume im Nebel, ohne zu wissen, wer er war oder wo er war, geschweige denn, warum er war …
    Lois stand mit hängenden Schultern da, betrachtete den Boden des Fahrstuhls und strahlte eine Traurigkeit aus, die Ralph fast das Herz brach. Er streckte die Hand aus, legte ihr einen Finger unter das Kinn und sah, wie eine filigrane blaue Rose aus der Stelle erblühte, wo seine Aura
ihre berührte. Er hob ihren Kopf und war nicht überrascht, Tränen in ihren Augen zu sehen.
    »Findest du immer noch, dass alles wunderbar ist, Lois?«, fragte er leise, und darauf vernahm er keine Antwort, weder mit den Ohren noch im Geiste.

5
    Sie waren die Einzigen, die im dritten Stock ausstiegen, wo die Stille so dicht war wie der Staub unter Büchereiregalen. Zwei Schwestern standen auf halbem Weg im Flur, drückten Klemmbretter an weiß gekleidete Busen und unterhielten sich flüsternd. Alle anderen in der Nähe des Fahrstuhls vermuteten bei ihrem Anblick wahrscheinlich eine Unterhaltung über Leben, Tod und heldenhafte Rettungsmaßnahmen; Ralph und Lois dagegen warfen nur einen Blick auf ihre sich überlappenden Auren und wussten, das Thema war, wohin sie nach Schichtende etwas trinken gehen sollten.
    Ralph

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