Schlaflos - Insomnia
sah es und gleichzeitig auch nicht, so wie ein in tiefes Nachdenken versunkener Mann Verkehrsampeln sieht und beachtet, ohne sie richtig wahrzunehmen. Der größte Teil seines Verstands war mit einem tödlichen Déjà-vu-Gefühl beschäftigt, das ihn in dem Augenblick überflutet hatte, da er und Lois aus dem Fahrstuhl in diese Welt getreten waren, in der das leise Quietschen der Schuhe der Krankenschwestern auf dem Linoleum sich fast genauso anhörte wie das leise Piepsen der Lebenserhaltungssysteme.
Zimmer mit geraden Nummern links; mit ungeraden Nummern rechts, dachte er, und 317, wo Carolyn gestorben
ist, liegt neben der Schwesternstation. Es war 317 - daran erinnere ich mich. Jetzt, wo ich wieder hier bin, erinnere ich mich an alles. Wie jemand ihr Krankenblatt immer verkehrt herum in den kleinen Rahmen an der Tür gesteckt hat. Wie das Licht an sonnigen Tagen als verzerrtes Rechteck auf ihr Bett fiel. Wie man auf dem Besuchersessel sitzen und die Stationsschwester beobachten konnte, deren Aufgabe darin bestand, Monitorsignale, Telefonanrufe und Pizzabestellungen zu überwachen.
Dasselbe. Alles dasselbe. Es war wieder Anfang März, das düstere Ende eines grauen, verhangenen Tages, Graupelkörner tschick-tschackten gegen das Fenster von Zimmer 317, und er saß seit dem frühen Morgen auf dem Besucherstuhl und hatte eine zugeklappte Ausgabe von Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches auf dem Schoß liegen. Er saß da und wollte nicht einmal aufstehen, um zur Toilette zu gehen, weil die Todesuhr mittlerweile fast abgelaufen war; jedes Ticken war ein Schlurfen, die Zeitspanne zwischen jedem Ticken ein Leben; seine langjährige Lebensgefährtin musste einen Zug erwischen, und er wollte am Bahnsteig stehen und sie verabschieden. Er würde nur eine Chance bekommen, es richtig zu machen.
Er konnte die Graupelkörner mühelos hören, die immer schneller und heftiger kamen, denn das Lebenserhaltungssystem war abgeschaltet worden. In der letzten Februarwoche hatte Ralph aufgegeben; Carolyn, die in ihrem ganzen Leben niemals aufgegeben hatte, hatte etwas länger gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Aber was genau war die Botschaft? Nun, dass bei einem harten Kampf auf zehn Runden, Carolyn Roberts gegen den Krebs, der
Krebs, der ungeschlagene Schwergewichtsweltmeister, als Sieger durch technischen K. o. hervorging.
Er hatte auf dem Besucherstuhl gesessen, beobachtet und gewartet, während ihr Atem immer schwerer ging - das lange, seufzende Ausatmen, die flache, reglose Brust, die zunehmende Gewissheit, dass der letzte Atemzug tatsächlich der letzte Atemzug gewesen, dass die Uhr abgelaufen war, der Zug den Bahnsteig erreicht hatte, um den einzigen Passagier an Bord zu nehmen … und dann kam ein gewaltiges, unbewusstes Keuchen, als sie die nächste Lungevoll der unfreundlichen Luft einsaugte, allerdings nicht mehr im normalen Sinne atmete, sondern sich von Atemzug zu Atemzug schleppte wie ein Betrunkener, der den dunklen Flur eines billigen Hotels entlangtorkelt.
Tschick-tschick-tschack-tschack: Graupel trommelte mit unsichtbaren Fingernägeln gegen die Fenster, während der schmutzig graue Märztag in eine schmutzig graue Märzdunkelheit überging und Carolyn die letzte Hälfte ihrer letzten Runde kämpfte. Natürlich war sie da nur noch mit Autopilot geflogen; das Gehirn, das einmal in diesem wunderschön gearbeiteten Schädel existiert hatte, war nicht mehr. Es war von einem Mutanten ersetzt worden - einem dummen, grauschwarzen Delinquenten, der nicht denken oder fühlen konnte, nur fressen und fressen und fressen, bis er sich selbst zu Tode geschlungen hatte.
Tschick-tschick-tschack-tschack, und er hatte gesehen, dass sieh das T-förmige Atmungsrohr in ihrer Nase verschoben hatte. Er wartete darauf, dass sie einen ihrer schrecklichen, gequälten Atemzüge aus der Luft saugen würde, und als sie ausatmete, beugte er sich nach vorn und rückte das kleine Plastikröhrchen wieder zurecht. Er
hatte ein wenig Rotz an die Finger bekommen, daran erinnerte er sich noch, und wischte sie an einem Papiertuch aus der Box auf dem Nachttisch ab. Er hatte sich zurückgelehnt, auf den nächsten Atemzug gewartet, wollte sich vergewissern, dass die Nasenröhre sich nicht wieder verschob, aber es kam kein nächster Atemzug, und er bemerkte, dass das Ticken, das er seit dem vergangenen Sommer überall gehört hatte, verstummt war.
Er erinnerte sich, wie er wartete, während die Minuten verstrichen - eine, dann drei, dann
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