Schlaflos - Insomnia
Mülleimer zwischen einem Plakat mit der Insel Capri und einem mit den italienischen Alpen drauf? Komm zu dir, Ralph.
Links von ihnen wusch eine kräftige Frau Ende vierzig oder Anfang fünfzig die Platte eines Glastischs ab; neben ihr stand ein kleiner Wagen mit verschiedenen Putzmitteln. Sie steckte in einer dunkelblauen Aura mit ungesunden schwarzen Flecken, die wie unheimliche Insekten über den Stellen ausschwärmten, wo sich Herz und Lungenflügel befanden, und sie betrachtete die Neuankömmlinge mit unverhohlenem Argwohn.
Direkt vor ihnen beobachtete eine andere Frau sie aufmerksam, allerdings nicht so argwöhnisch wie die Putzfrau. Ralph kannte sie vom Fernsehbericht am Tag der Demonstration mit den Puppenwürfen. Simone Castonguays Nichte war dunkelhaarig, um die fünfunddreißig und sah selbst zu dieser frühen Morgenstunde nahezu atemberaubend aus. Sie saß hinter einem nüchternen Schreibtisch aus grauem Metall, der ihr Aussehen perfekt ergänzte, und inmitten einer waldgrünen Aura, die bei Weitem gesünder als die der Putzfrau aussah. Auf einer Ecke des Schreibtischs stand eine Glasvase mit Herbstblumen.
Sie lächelte ihnen zögernd zu, ohne Lois zu erkennen, und deutete mit dem Finger auf die Uhr an der Wand. »Wir öffnen erst um acht«, sagte sie. »und ich glaube nicht, dass wir Ihnen heute helfen könnten. Sämtliche Ärzte sind abwesend - ich meine, Dr. Hamilton hat offiziell Dienst, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie erreichen könnte. Es ist eine Menge los - dies ist ein großer Tag für uns.«
»Ich weiß«, sagte Lois und drückte Ralphs Hand noch einmal, bevor sie sie losließ. Einen Augenblick hörte er ihre Stimme in seinem Geist, ganz leise - wie bei einem Überseetelefongespräch mit schlechter Verbindung -, aber verständlich:
[»Bleib, wo du bist, Ralph. Sie hat …«]
Lois schickte ihm ein Bild, das noch schwächer als der Gedanke und fast wieder verschwunden war, ehe Ralph es richtig erfassen konnte. Diese Art von Kommunikation fiel auf den höheren Ebenen wesentlich leichter, aber was er mitbekam, reichte aus. Die Hand, mit der Barbara Richards auf die Uhr gedeutet hatte, ruhte jetzt auf dem Schreibtisch, aber die andere hatte sie darunter, wo sich ein kleiner weißer Knopf neben der Knieöffnung befand. Sollte einer von ihnen das geringste Anzeichen seltsamen Verhaltens erkennen lassen, würde sie diesen Knopf drücken und zuerst ihren Freund mit dem Klemmbrett rufen, der draußen postiert war, und danach den größten Teil der privaten Sicherheitscops in Derry.
Und mich betrachtet sie mit ganz besonderem Argwohn, weil ich ein Mann bin, dachte Ralph.
Während Lois sich dem Schreibtisch näherte, kam Ralph ein beunruhigender Gedanke: Angesichts der momentanen Atmosphäre in Derry, könnte diese Form der Geschlechterdiskriminierung - unbewusst, aber deshalb nicht weniger real - diese hübsche junge Frau in Gefahr bringen; sie könnte verletzt … möglicherweise sogar getötet werden. Er erinnerte sich, wie Leydecker ihm sagte, dass sich in Eds kleinem Kader von Mitverrückten auch eine Frau befand. Blasser Teint, hatte er gesagt, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, dass ihre Augen wie pochierte Eier
aussehen. Sandra Sowieso hieß sie. Und wenn Sandra Sowieso sich Ms. Richards Schreibtisch genähert hätte, wie Lois sich ihm jetzt näherte, wenn sie zuerst die Handtasche geöffnet und dann hineingegriffen hätte, würde die Frau mit der waldgrünen Aura dann den Alarmknopf gedrückt haben?
»Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an mich, Barbara«, sagte Lois, »weil ich dich selten gesehen habe, seit du das College besucht hast; damals bist du mit dem jungen Sparkmeyer ausgegangen …«
»O mein Gott, Lennie Sparkmeyer, an den hab ich seit Jahren nicht mehr gedacht«, sagte Barbara Richards und stieß ein kurzes, verlegenes Lachen aus. »Aber ich erinnere mich an Sie. Lois Delancey. Tante Simones Pokerfreundin. Spielt ihr immer noch?«
»Ich heiße Chasse, nicht Delancey, und wir spielen noch.« Lois klang hocherfreut, weil Barbara sich an sie erinnerte, und Ralph hoffte, sie würde darüber nicht vergessen, weshalb sie eigentlich hier waren. Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. »Wie dem auch sei, Simone hat mir eine Nachricht für Gretchen Tillbury aufgetragen.« Sie holte einen Zettel aus der Handtasche. »Ob du ihr die wohl geben könntest?«
»Ich bezweifle stark, dass ich heute auch nur mit Gretchen Tillbury telefonieren könnte«,
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