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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sämtlichen Mienen, die er sah, unterschwellig ein Zug gemeinsam war - ein roter Faden -, und er glaubte zu wissen, was es war: Sie litten alle an etwas, was man Melancholie genannt hatte, als er noch ein Kind war, und Melancholie war nur ein hochtrabenderes Wort für den Blues.
    Ralph erinnerte sich an Zeiten in seinem Leben, als er das emotionale Äquivalent von einer kalten Strömung beim Schwimmen oder Turbulenzen beim Fliegen erlebt hatte. Man schleppte sich so durch seinen Tag, fühlte sich manchmal großartig, manchmal nur so lala, aber man kam zurecht und brachte es hinter sich … und dann stürzte man plötzlich ohne ersichtlichen Grund ab und ging in Flammen auf. Ein Gefühl von Scheiße, was bringt das überkam einen - in dem Moment ohne mit einem bestimmtes Ereignis im Leben verknüpft zu sein, aber dennoch ungeheuer stark ausgeprägt -, und man wollte einfach nur wieder ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.
    Vielleicht wird dieses Gefühl von so etwas verursacht, dachte er. Vielleicht liegt es daran, dass wir mit so etwas
konfrontiert werden - ein gewaltiges Chaos von Tod oder Trauer, das in der Luft lag, sich ausbreitete wie ein Festzelt aus Spinnweben und Tränen statt aus Segeltuch und Seilen. Wir sehen es nicht, nicht auf unserer kurzfristigen Ebene, aber wir spüren es. O ja, wir spüren es. Und jetzt …
    Jetzt versuchte es, sie auszusaugen. Vielleicht waren sie selbst keine Vampire, wie sie befürchtet hatten, aber dieses Ding war auf jeden Fall einer. Das Leichentuch verfügte über ein träges, halb-empfindungsfähiges Leben, und es würde sie aussaugen, wenn es konnte. Wenn sie es zuließen.
    Lois stolperte gegen ihn, und Ralph musste alle Kraft aufbieten, damit sie nicht beide zu Boden fielen. Dann hob sie den Kopf (langsam, als wäre ihr Haar in Zement getaucht worden), bildete mit einer Hand einen Trichter am Mund und atmete tief ein. Gleichzeitig flackerte sie ein wenig. Unter anderen Umständen hätte Ralph dieses Flackern als optische Täuschung abgetan, aber jetzt nicht. Sie war emporgestiegen. Nur ein klein wenig. Nur so weit, dass sie sich gütlich tun konnte.
    Er hatte nicht gesehen, wie Lois die Aura der Kellnerin angezapft hatte, aber dieses Mal spielte sich alles vor seinen Augen ab. Die Auren der Medienleute waren wie kleine, aber hell erleuchtete Papierlampions, die tapfer in einer riesigen, dunklen Höhle strahlten. Nun fuhr ein gebündelter violetter Lichtstrahl aus einem heraus - aus Connie Chungs bärtigem Kameramann Michael Rosenberg. Vor Lois’ Gesicht teilte er sich in zwei Strahlen. Der obere teilte sich wieder zweimal und fuhr in ihre Nasenlöcher; der untere zwischen ihre geöffneten Lippen und in
den Mund. Er konnte ein schwaches Leuchten hinter ihren Wangen erkennen, das sie von innen erhellte wie eine Kerze eine Kürbislaterne.
    Ihr Griff um ihn lockerte sich, und plötzlich war die Last ihres Gewichts von ihm genommen. Einen Moment später verschwand der violette Lichtstrahl. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre bleigrauen Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen - nicht viel, aber etwas.
    »Schon besser - viel besser. Jetzt du, Ralph!«
    Er zögerte - ihm kam es immer noch wie Diebstahl vor -, aber es musste sein, wenn er nicht hier und jetzt zusammenbrechen wollte; er konnte fast spüren, wie der letzte Rest der geborgten Energie des Nirvana-Jungen durch seine Poren entwich. Er legte die Hand um den Mund, wie er es heute Morgen auf dem Parkplatz des Dunkin’ Donuts getan hatte, und drehte sich auf der Suche nach einem Zielobjekt leicht nach links. Connie Chung war einige Schritte auf sie zugekommen; sie sah immer noch zu dem Bettlakenbanner hinauf, das vom Vordach hing, und unterhielt sich mit Rosenberg darüber (dem es nach Lois’ Anleihe auch nicht schlechter zu gehen schien als vorher). Ohne weiter nachzudenken, inhalierte Ralph heftig durch den Trichter seiner Finger.
    Chungs Aura hatte denselben lieblichen Elfenbeinfarbton eines Brautkleids wie die, welche Helen und Nat an dem Tag umgeben hatten, als sie mit Gretchen Tillbury bei ihm zu Hause gewesen waren. Statt eines Lichtstrahls schoss so etwas wie ein langes, gerades Band aus Chungs Aura. Ralph spürte, wie ihn fast augenblicklich Kraft durchdrang und die quälende Erschöpfung aus seinen Gelenken und Muskeln vertrieb. Und er konnte wieder klar denken,
als wäre eine gewaltige Schlammwolke gerade aus seinem Gehirn gespült worden.
    Connie Chung verstummte, sah kurz zum Himmel und

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