Schlaflos - Insomnia

führte den Gedanken nicht zu Ende. Es war nicht nötig.
    Lois schüttelte langsam den Kopf.
    [»Es war ein grüner Mann. Wenn es in diesem Spiel Seiten gibt, weiß ich nicht, auf welcher dieser … diese Person … steht. Er schien gut zu sein, aber ich könnte mich täuschen. Ich konnte ihn nicht sehen. Seine Aura war zu grell. Er sagte mir, dass ich dir die hier wiedergeben soll.«]
    Sie streckte die Hand aus und ließ zwei kleine, glitzernde Gegenstände auf seine Handfläche fallen: ihre Ohrringe. Auf einem erkannte er einen kastanienfarbenen Fleck und vermutete, dass es Atropos’ Blut war. Er wollte die Hand darum schließen, zuckte aber zusammen, denn er verspürte einen stechenden Schmerz.
    [»Du hast die Verschlüsse vergessen, Lois.«]

    Sie sprach bedächtig und gedankenlos, wie eine Frau in einem Traum.
    [»Nein, habe ich nicht - ich habe sie weggeworfen. Der grüne Mann hat es befohlen. Sei vorsichtig. Er schien … gütig … zu sein, aber eigentlich kann ich das nicht wissen, oder? Mr. Chasse hat immer gesagt, ich wäre die leichtgläubigste Frau auf der Welt und immer bereit, von allen nur das Beste zu denken. Von jedem .«]
    Sie streckte langsam die Hand aus und ergriff seine Handgelenke, während sie ihm unverwandt ernst ins Gesicht sah.
    »Ich weiß es einfach nicht.«
    Dass sie den Gedanken laut aussprach, schien sie aufzuwecken, und sie schaute ihn blinzelnd an. Ralph hielt es für möglich - gerade noch denkbar -, dass sie tatsächlich geschlafen, dass sie diesen sogenannten »grünen Mann« geträumt hatte. Aber vielleicht wäre es klüger, einfach die Ohrringe zu nehmen. Sie bedeuteten vielleicht nichts, aber andererseits konnte es auch nicht schaden, Lois’ Ohrringe in der Tasche zu haben … das heißt, wenn er sich nicht daran pikte.
    Lachesis: [Ralph, was ist denn? Stimmt etwas nicht?]
    Er und Klotho waren langsam nachgekommen und hatten daher Ralphs Gespräch mit Lois nicht mitbekommen. Ralph schüttelte den Kopf und drehte die Hand, um die Ohrringe vor ihnen zu verbergen. Klotho hatte McGoverns Weste aufgehoben und strich die wenigen bunten Blätter weg, die daran klebten. Nun reichte er sie Ralph, der unauffällig Lois’ verschlusslose Ohrringe in einer seiner Taschen verschwinden ließ, bevor er die Weste wieder anzog.

    Es wurde Zeit zu handeln, und die warme Linie in der Mitte seines Arms - entlang der Narbe - sagte ihm, womit er anfangen musste.
    [»Lois?«]
    [»Ja, Lieber?«]
    [»Ich muss von deiner Aura nehmen, und zwar eine Menge. Verstehst du das?«]
    [»Ja.«]
    [»Ist das in Ordnung?«]
    [»Ja, natürlich.« ]
    [»Sei tapfer - es wird nicht lange dauern.«]
    Er legte die Arme um ihre Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Nacken. Sie machte die gleiche Geste, dann beugten sie sich langsam zueinander, bis sie sich mit der Stirn berührten und ihre Lippen keine zwei Fingerbreit mehr auseinander waren. Er konnte den Duft ihres Parfüms riechen, der sie immer noch umgab - möglicherweise strömte er aus den dunklen, süßen Vertiefungen hinter ihren Ohren.
    [»Bist du bereit, Liebste?«]
    Ihre Antwort fand er seltsam und tröstlich zugleich.
    [»Ja, Ralph. Sieh mich an. Komm ins Licht. Komm ins Licht und nimm das Licht.«]
    Ralph schürzte die Lippen und begann einzuatmen. Ein breites Band rauchigen Lichts strömte aus ihrem Mund und ihrer Nase in ihn. Seine Aura wurde augenblicklich heller, so lange, bis sie eine strahlende, wolkige Korona bildete, die ihn umgab. Und immer noch inhalierte er weiter, atmete etwas jenseits des Atems, spürte, wie die Narbe an seiner Hand immer heißer und heißer wurde, bis sie einem unter seiner Haut begrabenen Starkstromkabel glich.
Er hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte … aber er wollte nicht.
    Sie taumelte einmal. Er sah, wie ihr Blick verschwamm, und spürte, sie sich der Griff ihrer Hände in seinem Nacken kurz lockerte. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen, glänzenden Augen voll Vertrauen an, und ihr Griff wurde wieder fest. Als sich sein titanischer Atemzug schließlich dem Gipfel näherte, stellte er fest, dass ihre Aura so blass geworden war, dass er sie kaum noch sehen konnte. Ihre Wangen waren milchig weiß, und ihr Haar so grau, dass das Schwarz fast nicht mehr zu sehen war. Er musste aufhören, musste , oder er würde sie umbringen.
    Es gelang ihm, die linke Hand von der rechten zu lösen, und das schien gleichsam den Stromkreis zu unterbrechen; nun konnte er von ihr zurückweichen.