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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Lois schwankte und wäre beinahe gestürzt, aber Klotho und Lachesis, die nun eine gewisse Ähnlichkeit mit den Liliputanern aus Gullivers Reisen hatten, packten sie an den Armen und ließen sie vorsichtig auf die Bank sinken.
    Ralph ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. Er war außer sich vor Angst und Schuldgefühlen, gleichzeitig aber von einem so gewaltigen Gefühl der Macht durchdrungen, dass er den Eindruck hatte, als könnte ihn ein einziger heftiger Ruck wie eine Flasche Nitroglyzerin zur Explosion bringen. Jetzt hätte er mit der Karateschlag-Geste ein Gebäude zum Einsturz bringen können - möglicherweise eine ganze Reihe davon.
    Allerdings hatte er Lois verletzt. Möglicherweise schwer.
    [»Lois! Lois, kannst du mich hören? Es tut mir leid!«]
    Sie sah benommen zu ihm auf, eine Frau, die binnen Sekunden von vierzig Jahren auf sechzig Jahre gealtert
war … und dann immer älter bis weit über siebzig, wie eine Rakete, die über ihr anvisiertes Ziel hinausschießt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.
    [»Lois, es tut mir leid. Ich wusste es nicht, und als ich es merkte, konnte ich nicht mehr aufhören.«]
    Lachesis: [Wenn Sie überhaupt noch eine Chance haben wollen, Ralph, dann müssen Sie jetzt gehen. Er ist fast da.]
    Lois nickte zustimmend.
    [»Geh, Ralph - ich bin nur schwach, das ist alles. Ich komme schon wieder auf die Beine. Ich bleibe einfach hier sitzen, bis ich wieder bei Kräften bin.«]
    Ihre Augen sahen nach links, und Ralph folgte ihrem Blick. Er sah den Penner, den sie vorhin in die Flucht getrieben hatten. Er war zurückgekehrt, um in den Abfalleimern auf dem Hügel weiter nach Pfandflaschen und -dosen zu suchen, und auch wenn seine Aura nicht ganz so gesund aussah wie die des Burschen, den sie vorhin bei den alten Gleisen getroffen hatten, schätzte Ralph, dass er es für den Notfall tun würde … und für Lois war das eindeutig ein solcher.
    Klotho: [Wir werden dafür sorgen, dass er hierher kommt, Ralph - wir haben nicht viel Einfluss auf die stofflichen Aspekte der Welt der Kurzfristigen, aber ich denke, so viel werden wir schaffen.]
    [»Bestimmt?«]
    [Ja.]
    [»Okay. Gut.«]
    Ralph warf einen raschen Blick auf die beiden kleinen Männer, bemerkte ihre besorgten, furchtsamen Augen und nickte. Dann bückte er sich und küsste Lois’ kalte, runzlige
Wange. Sie schenkte ihm das Lächeln einer müden alten Großmutter.
    Ich habe ihr das angetan, dachte er. Ich.
    Dann solltest du gefälligst dafür sorgen, dass es nicht umsonst war, sagte Carolyns Stimme brüsk.
    Ralph schenkte den dreien - Klotho und Lachesis flankierten Lois mittlerweile schützend auf der Bank - einen letzten Blick, ehe er wieder den Hügel hinabging.
    Zwischen den Toiletten blieb er einen Moment stehen und lehnte den Kopf an die mit der Aufschrift FRAUEN. Er hörte nichts. Aber als er den Kopf an die blaue Plastiktür der Kabine mit der Aufschrift MÄNNER legte, hörte er eine leise, hallende, singende Stimme:
    »Who believes that my wildest dreams
And my craziest schemes will come true?
You, baby, nobody but you.«
    Wer glaubt daran, dass meine wildesten Träume und meine wahnwitzigsten Pläne Wirklichkeit werden? Du, Baby, niemand außer dir.
    Herrgott, der ist völlig Banane.
    Ist das etwas Neues, Liebling?
    Wohl nicht, schätzte Ralph. Er ging zur Tür des Portosan und riss sie auf. Jetzt konnte er auch das ferne, wespenähnliche Summen eines Motorflugzeugs hören, aber es gab nichts zu sehen, das er nicht schon Dutzende Male vorher gesehen hatte: die gesprungene Klobrille, die schief auf der Kloschüssel hing, eine Rolle Toilettenpapier, die einen seltsamen und irgendwie geheimnisvoll aufgequollenen Eindruck machte, und links ein Pissoir, das wie eine
Träne aus Plastik aussah. Die Wände waren mit Kritzeleien vollgeschmiert. Die größte - und auffälligste - stand in fußgroßen roten Buchstaben über dem Pissoir: TONY BOYNTON HAT DEN ENGSTEN KLEINEN HINTERN IN DERRY! Ein widerliches Fichtennadelaroma überlagerte die Gerüche von Scheiße, Pisse und Pennerfürzen wie Make-up das Gesicht einer Leiche. Die Stimme, die er hörte, schien aus der Kloschüssel zu kommen, möglicherweise aber auch aus den Wänden selbst:
    »From the time I fall asleep
’til the morning comes
I dream about you, baby, nobody but you.«
    Wo ist er?, fragte sich Ralph. Und wie, zur Hölle, kann ich zu ihm kommen?
    Ralph verspürte plötzlich etwas Warmes an der Hüfte, als hätte ihm jemand eine

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