Schlaflos - Insomnia
Sein McDonalds-Poster, auf dem Ronald und Mayor Cheese und der Hamburglar vor dem Fenster des Autoschalters den Boot-Scootin’ Boogie tanzten, lag auf seinem Schoß, aber er hatte nur die goldenen Bogen ausgemalt, ehe er das Poster auf die leere Seite umdrehte. Nicht, dass er das Interesse verloren hätte; ihm war gerade nur selbst ein Bild eingefallen, und das überkam ihn, wie es bei solchen Einfällen häufig bei ihm der Fall war, mit zwanghafter Wucht. Er hatte fast den ganzen Tag darüber nachgedacht, was im Keller von High Ridge geschehen war - der Rauch, die Hitze, die ängstlichen Frauen und die beiden Engel, die gekommen waren, um sie zu retten -, aber sein grandioser Einfall verdrängte diese beunruhigenden Gedanken, und er machte sich von stummem Enthusiasmus beseelt an die Arbeit. Bald war Patrick beinahe zumute, als würde er selbst in der Welt leben, die er mit seinen Wachsmalstiften malte.
Er war ungeachtet seiner vier Jahre bereits ein außerordentlich fähiger Maler (»Mein kleines Genie«, nannte ihn Sonia manchmal), und sein Bild war viel besser als das Poster zum Ausmalen auf der anderen Seite des Blatts. Was er in den Minuten, bevor das Licht ausging, zustande brachte, war eine Arbeit, auf die ein begabter Kunststudent im ersten Semester stolz hätte sein können. In der Mitte des Posters ragte ein Turm aus dunklen, rußfarbenen Steinen in einen blauen Himmel mit vereinzelten dicken weißen Wolken auf. Er war von einem Feld Rosen umgeben, die so rot waren, dass sie fast zu schreien schienen. Auf einer Seite stand ein Mann in verblichenen Bluejeans. Revolvergurte überkreuzten sich auf seinem flachen Bauch; an jeder Hüfte hing ein Holster. Ganz oben auf
dem Turm sah ein Mann in roter Robe mit einer Mischung aus Hass und Angst auf den Revolvermann herunter. Seine Hände, die er um die Brüstung geklammert hatte, schienen ebenfalls rot zu sein.
Sonia war wie gebannt von Susan Day, die hinter dem Rednerpult saß und ihrer Einführungsrede zuhörte, aber sie sah kurz vor dem Ende der Rede auch auf das Bild ihres Sohnes. Sie wusste seit zwei Jahren, dass Patrick das war, was Psychologen ein Wunderkind nannten, und sie redete sich manchmal ein, dass sie sich an die komplexen Bilder und Play-Doh-Skulpturen gewöhnt hatte, die er seine Knetfamilie nannte. Vielleicht stimmte das bis zu einem gewissen Grad, aber dieses spezielle Bild erfüllt sie mit einem seltsamen Frösteln, das sie nicht völlig als emotionale Auswirkung des langen, aufregenden Tags abtun konnte.
»Wer ist das?«, fragte sie und deutete auf die winzige Gestalt, die eifersüchtig vom Gipfel des dunklen Turms herabsah.
»Der ist der Rote König«, sagte Patrick.
»Oh, der Rote König. Ich verstehe. Und wer ist der Mann mit den Revolvern?«
Als er den Mund aufmachte, um zu antworten, hob Roberta Harper, die Frau am Rednerpult, den linken Arm (sie trug einen schwarzen Trauerflor daran) und deutete auf die Frau, die hinter ihr saß. »Meine Freunde, Ms. Susan Day! «, rief sie, und Patricks Antwort auf die zweite Frage seiner Mutter ging im donnernden Beifall unter:
Der heißt Roland, Mama. Manchmal träume ich von ihm. Der ist auch ein König.
5
Jetzt saßen die beiden mit klingelnden Ohren in der Dunkelheit, und zwei Gedanken gingen Sonia durch den Kopf wie Ratten, die einander in einem Laufrad jagen: Nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wusste, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wusste, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag …
»Mami, du zerdrückst mein Bild! «, sagte Patrick. Er klang ein wenig atemlos, und Sonia wurde bewusst, dass sie auch ihn zerdrückte. Sie lockerte ihren Griff ein wenig. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Schreien, Rufen und stammelnden Fragen drang aus der dunklen Grube unter ihnen herauf, wo die Leute, die reich genug waren, dass sie sich eine »Spende« von fünfzehn Dollar leisten konnten, auf Klappstühlen saßen. Ein durchdringender Schmerzensschrei übertönte das allgemeine Murmeln, und Sonia zuckte auf dem Sitz zusammen.
Der donnernde Knall unmittelbar nach der Explosion hatte schmerzhaft auf ihre Ohren gedrückt und das Gebäude in seinen Grundmauern erschüttert. Verglichen damit hörte sich der fortwährende Lärm - Autos, die auf dem Parkplatz wie Kracher explodierten -, leise und unbedeutend an, aber Sonia spürte dennoch, wie Patrick sich bei jedem neuen Knall an sie drückte.
»Bleib ruhig, Pat«, sagte sie zu ihm. »Etwas
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