Schlaflos - Insomnia
hingehen, nicht einmal, um sein Scheckbuch zu holen oder frische Unterwäsche anzuziehen. Wenn er etwas braucht, gibt er eine Liste und den Hausschlüssel einem Polizisten, und der Polizist geht es holen. Ich vermute, er geht nach Fresh Harbor. Dort gibt es eine Menge Unterkünfte für Laborangestellte. Diese kleinen Hütten. Irgendwie sind sie niedlich …« Das kurze Aufflackern des Feuers in ihrer Stimme, das er gehört hatte, war längst erloschen. Jetzt hörte sich Helen deprimiert, verloren und sehr, sehr müde an.
»Helen, es freut mich, dass du angerufen hast. Und ich bin erleichtert, da will ich dir nichts vormachen. Und jetzt geh schlafen.«
»Was ist mit dir, Ralph?«, fragte sie unerwartet. »Schläfst du neuerdings?«
Der abrupte Themenwechsel verblüffte ihn so, dass er so aufrichtig antwortete, wie es ihm andernfalls vielleicht nicht möglich gewesen wäre. »Etwas … aber vielleicht nicht so viel, wie ich brauche. Wahrscheinlich nicht so viel, wie ich brauche.«
»Nun, gib auf dich acht. Du warst heute sehr tapfer, wie ein Ritter in einer Geschichte über König Artus, aber ich glaube, selbst Sir Lancelot musste sich ab und zu einmal ausruhen.«
Das rührte ihn und amüsierte ihn gleichzeitig. Im Geiste sah er kurz ein überaus deutliches Bild vor sich: Ralph Roberts in Rüstung und auf einem schneeweißen Pferd, während
Bill McGovern, sein getreuer Knappe, in Lederwams und mit seinem kecken Panamahut auf einem Pony hinter ihm ritt.
»Danke, mein Schatz«, sagte er. »Ich glaube, so etwas Liebes hat mir keiner mehr gesagt, seit Lyndon Johnson Präsident war. Schlaf so gut du kannst, okay?«
»Okay. Du auch.«
Sie legte auf. Ralph betrachtete das Telefon einen oder zwei Augenblicke nachdenklich, dann legte auch er den Hörer auf. Vielleicht würde er ja tatsächlich gut schlafen. Nach allem, was heute passiert war, hatte er das mit Sicherheit verdient. Aber vorerst beschloss er, nach unten zu gehen, auf der Veranda zu sitzen, der Sonne beim Untergehen zuzusehen und diese sich um sich selbst kümmern lassen.
5
McGovern war wieder da und fläzte sich in seinen Lieblingssessel auf der Veranda. Er beobachtete irgendetwas weiter oben auf der Straße und drehte sich nicht gleich um, als sein Hausgenosse die Veranda betrat. Ralph folgte seinem Blick und sah einen blauen Kleinbus einen halben Block entfernt am Bordstein der Harris Avenue auf der Seite des Red Apple parken. DERRY MEDICAL SERVICES stand in großen weißen Buchstaben auf der Hecktür.
»Hi, Bill«, sagte Ralph und ließ sich in seinen Sessel fallen. Der Schaukelstuhl, auf dem Lois Chasse immer saß, wenn sie herüberkam, stand zwischen ihnen. In der Abenddämmerung war eine leichte Brise aufgekommen und herrlich
kühl nach der Hitze des Nachmittags; der Schaukelstuhl bewegte sich wie von selbst träge hin und her.
»Hi«, sagte McGovern und sah Ralph an. Er wollte sich abwenden, fuhr aber noch einmal herum. »Mann, du solltest besser die Tränensäcke unter deinen Augen hochstecken. Wenn nicht, wirst du bald drauf treten.« Ralph vermutete, das sollte sich wie eines der bissigen kleinen Bonmots anhören, für die McGovern in der ganzen Straße berühmt war, aber in seinen Augen stand aufrichtige Besorgnis geschrieben.
»War ein Scheißtag«, sagte er. Er erzählte McGovern von Helens Anruf, ließ aber alles weg, was ihr McGovern gegenüber vielleicht peinlich sein konnte. Bill hatte nie zu ihren besten Freunden gehört.
»Freut mich, dass es ihr gut geht«, sagte McGovern. »Ich will dir was sagen, Ralph - du hast mich heute Nachmittag schwer beeindruckt, als du die Straße entlanggegangen bist wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags . Vielleicht war es Wahnsinn, aber es war auch ziemlich toll. Um die Wahrheit zu sagen, ich war schwer beeindruckt von dir.«
Zum zweiten Mal innerhalb von fünfzehn Minuten bezeichnete jemand Ralph fast als Helden. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich war so wütend auf ihn, dass mir erst später klar geworden ist, wie dumm ich war. Wo bist du gewesen, Bill, ich hab vor einer Weile versucht, bei dir anzurufen.«
»Ich war auf der Extension spazieren«, sagte McGovern. »Hab versucht, meinen Motor etwas abzukühlen, denke ich. Mir war schlecht, und ich hatte Kopfweh seit Johnny Leydecker und der andere Ed mitgenommen haben.«
Ralph nickte. »Ich auch.«
»Wirklich?« McGovern sah ihn überrascht und ein wenig skeptisch an.
»Wirklich«, antwortete Ralph mit einem knappen Lächeln.
»Wie auch immer,
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