Schlaflos - Insomnia
gewöhnlicher Wahrnehmung lag?
Hör auf damit, Ralph, und zwar sofort. Du solltest dir etwas Besseres einfallen lassen, sonst sitzt du am Ende im selben Boot wie der arme alte Ed Deepneau.
Der Gedanke an Ed rief einige Assoziationen wach - etwas, was er an dem Tag gesagt hatte, als er wegen Misshandlung seiner Frau verhaftet worden war -, aber bevor Ralph es klar eingrenzen konnte, sprach eine Stimme fast direkt neben seinem linken Ellbogen.
»Mama? Mami? Können wir wieder die Honey-Nut Cheerios kaufen?«
»Das werden wir sehen, wenn wir drinnen sind, Liebes.«
Eine junge Frau und ein kleiner Junge gingen Hand in Hand vor ihm vorbei. Der Junge, der vier oder fünf sein musste, hatte gesprochen. Seine Mutter schritt in einer fast blendend weißen Umhüllung dahin. Die »Ballonschnur«, die von ihrem blonden Haar aufstieg, war ebenfalls weiß und sehr breit - mehr wie das Band um eine hübsche Geschenkbox als eine Schnur. Sie stieg bis zu einer Höhe von mindestens sechs Metern hoch und wehte beim Gehen leicht hinter ihr her. Ralph musste an Brautschmuck denken - Schleppen, Schleier, weiße, bauschige hauchzarte Röcke.
Die Aura ihres Sohns war von gesundem Dunkelblau mit einem Stich ins Violette, und als die beiden vorübergingen, sah Ralph etwas Faszinierendes. Fäden der Auren stiegen auch von ihren ineinander verschlungenen Händen auf: weiß von der Frau, dunkelblau von dem Jungen. Sie waren verflochten wie ein Zopf, stiegen empor, verblassten und verschwanden.
Mutter und Sohn, Mutter und Sohn, dachte Ralph. Die beiden Bänder, die umeinander geflochten waren wie Wilder Wein, der an einem Spalier im Garten hinaufwuchs, hatten etwas Perfektes, etwas schlicht Symbolisches. Als er sie sah, jubilierte sein Herz - kitschig, aber genau so empfand er. Mutter und Sohn, weiß-und-blau, Mutter und …
»Mama, warum schaut der Mann so?«
Die blonde Frau sah Ralph nur kurz an, aber ihm entging nicht, wie sie die Lippen zusammenkniff, bevor sie sich abwandte. Aber wichtiger war, dass er sah, wie die strahlende Aura, die sie umgab, plötzlich dunkler wurde,
sich zusammenzog und dunkelrote, spiralförmige Schattierungen bekam.
Das ist die Farbe der Angst, dachte Ralph. Oder vielleicht der Wut.
»Ich weiß nicht, Tim. Komm mit, hör auf herumzutrödeln.« Sie ging schneller, zog ihn mit sich. Ihr Pferdeschwanz wippte hin und her und hinterließ kleine graue, rotgemusterte Fächer in der Luft. Für Ralph sahen sie wie die Halbkreise aus, die Scheibenwischer manchmal auf schmutzigen Windschutzscheiben hinterließen.
»He, Mama, lass mich! Hör auf, so zu ziehen! « Der kleine Junge musste laufen, damit er Schritt halten konnte.
Das ist meine Schuld, dachte Ralph und sah ein Bild vor sich, wie er für die junge Mutter ausgesehen haben musste: alter Mann, müdes Gesicht, große, purpurne Tränensäcke unter den Augen. Er steht - kauert - am Briefkasten neben der Rite Aid Apotheke und starrt sie und ihren kleinen Jungen an, als wären sie das Bemerkenswerteste auf der Welt.
Was Sie auch ganz genau sind, Ma’am, wenn Sie es nur wüssten.
Für sie musste er wie der größte Perversling aller Zeiten ausgesehen haben. Er musste das wieder loswerden. Ob echt oder Halluzination spielte keine Rolle - er musste dafür sorgen, dass es aufhörte. Wenn es ihm nicht gelang, würde jemand die Polizei oder die Männer mit den Zwangsjacken rufen. Möglicherweise würde die hübsche Mutter die Reihe der Münzfernsprecher gleich neben der Haupttür des Markts zu ihrem ersten Ziel machen.
Er fragte sich gerade, wie man etwas zum Verschwinden bringen konnte, das sich nur im eigenen Kopf abspielte, als ihm klar wurde, dass es schon geschehen war.
Ob übersinnliches Phänomen oder Halluzination, es war einfach verschwunden, während er darüber nachgedacht hatte, wie schrecklich er für die hübsche junge Mutter ausgesehen haben musste. Der Tag war in sein normales Altweibersommerleuchten zurückgefallen, das wunderbar war, aber immer noch weit von diesem klaren, strahlenden, allumfassenden Glanz entfernt. Die Menschen, die über den Parkplatz der Einkaufspassage gingen, waren wieder nur Menschen: keine Auren, keine Ballonschnüre, kein Feuerwerk. Nur Menschen auf dem Weg, Lebensmittel im Shop’n Save einzukaufen oder ihre letzten Urlaubsbilder bei Photo-Mat abzuholen oder einen Kaffee zum Mitnehmen im Day Break, Sun Down zu bestellen. Manche gingen vielleicht sogar ins Rite Aid, um eine Packung Trojan-Kondome zu kaufen oder, Gott
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