Schlaflos - Insomnia
diesmal machte sich Ralph keine Sorgen deswegen. »Versuchen Sie sich erst einmal zu entspannen. Und vergessen Sie nicht, seien Sie dankbar für den Schlaf, den Sie bekommen .«
»Okay. Nochmals danke.«
Wyzer nickte und ging wieder hinter seinen Tresen.
4
Ralph ging durch Gang 3 zurück, bog an der eindrucksvollen Kondomauslage links ab und ging durch eine Tür hinaus, über deren Griff mit Abziehbuchstaben die Worte DANKE, DASS SIE BEI RITE AID EINGEKAUFT HABEN standen. Zuerst dachte er sich nichts dabei, dass er in der grellen Helligkeit die Augen zukneifen musste - immerhin war es Mittag, und womöglich war es in der Apotheke dunkler gewesen, als ihm bewusst gewesen war. Dann machte er die Augen wieder weit auf, und der Atem stockte ihm in der Kehle.
Er war wie vom Donner gerührt, und ein Ausdruck maßlosen Erstaunens breitete sich in seinem Gesicht aus. Es war der Ausdruck eines Entdeckers, der sich durch ein letztes Dickicht von Büschen gekämpft hat und plötzlich eine sagenhafte versunkene Stadt vor sich sieht, oder eine atemberaubende geologische Formation - eine Diamantklippe oder einen spiralförmigen Wasserfall.
Immer noch mit angehaltenem Atem drückte sich Ralph an den blauen Briefkasten neben dem Eingang der Apotheke,
sein Blick schweifte hektisch von einer Seite auf die andere, während das Gehirn dahinter versuchte, die wunderbaren und schrecklichen Eindrücke zu verstehen, die es empfing.
Die Auren waren wieder da, aber das war etwa so, als würde man sagen, dass Hawaii ein Ort ist, wo man keinen Mantel tragen muss. Diesmal war das Licht überall, grell und fließend, seltsam und wunderschön.
Ralph hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Erlebnis gehabt, das mit diesem entfernt vergleichbar war. Im Sommer 1941, dem Jahr, als er achtzehn geworden war, reiste er per Daumen von Derry zur Farm seines Onkels in Poughkeepsie, New York, eine Strecke von rund vierhundert Meilen. Am zweiten Tag seiner Reise kam ein Gewitter auf, und er lief zum nächstbesten Unterschlupf - einer verfallenen alten Scheune, die trunken am Ende einer langen Wiese schwankte. An diesem Tag war er mehr zu Fuß gegangen als gefahren und fest in einer der längst verlassenen Pferdeboxen der Scheune eingeschlafen, noch bevor das Donnergrollen droben am Himmel aufgehört hatte.
Am nächsten Tag erwachte er am frühen Vormittag nach vierzehn Stunden Schlaf und sah sich staunend um, da er im ersten Augenblick nicht wusste, wo er sich befand. Er wusste nur, es war ein dunkler, süßlich riechender Ort, und in der Welt über ihm und ringsum waren funkelnde, leuchtende Nähte aufgeplatzt. Dann erinnerte er sich, wie er Zuflucht in der Scheune gesucht hatte, und ihm ging auf, dass die seltsame Vision durch die Ritzen und Fugen in Wänden und Dach der Scheune, verbunden mit dem hellen Sommersonnenschein, verursacht worden
war … nur das, sonst nichts. Trotzdem saß er weitere fünf Minuten stumm staunend da, ein Teenager mit großen Augen und Heu im Haar und von Spreu staubigen Armen; er saß da und sah zum flutenden Gold winziger Staubkörnchen hinauf, die träge in den schrägen Strahlen der Sonne tanzten. Er wusste noch, er hatte gedacht, dass es wie in einer Kirche war.
Dies war dasselbe Erlebnis hoch zehn. Und das Verflixte daran: Er konnte nicht genau beschreiben, was geschehen war, wie die Welt sich verändert hatte und so wunderschön werden konnte. Gegenstände und Menschen, besonders die Menschen, hatten Auren, ja, aber das war nur der Anfang dieses erstaunlichen Phänomens. Die Dinge waren noch niemals so gleißend gewesen, so durch und durch da . Die Autos, Telefonmasten, die Einkaufswagen in den Stellplätzen vor dem Supermarkt, die Holzhäuser auf der anderen Straßenseite - das alles schien ihn anzuspringen wie 3-D-Bilder aus alten Filmen. Mit einem Mal war die schäbige kleine Ladenzeile in der Witcham Street zu einem Wunderland geworden, und obwohl Ralph es unmittelbar vor sich sah, war er sich nicht hundertprozentig sicher, was er sah, nur dass es bunt und atemberaubend und auf wundersame Weise fremdartig war.
Das Einzige, das er abgrenzen konnte , waren die Auren der Leute, die in die Geschäfte gingen und herauskamen, die Tüten im Kofferraum verstauten oder in ihre Autos einstiegen und wegfuhren. Manche der Auren waren heller als andere, aber selbst die trübsten waren hundertmal heller als bei seinen ersten Blicken auf dieses Phänomen.
Aber es ist das, worüber Wyzer gesprochen hat, kein Zweifel.
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