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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Es ist die Hyperrealität, und was du vor dir siehst, ist
das Gleiche wie die Halluzinationen von Leuten, die unter Einfluss von LSD stehen. Du siehst nur ein weiteres Symptom deiner Schlaflosigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Schau es dir an, Ralph, und wundere dich, so viel du willst - es ist wunderbar -, nur glaub nicht daran.
    Aber er musste sich nicht zum Staunen ermuntern - es gab überall etwas zu staunen. Ein Bäckerwagen fuhr aus einem Parkplatz vor dem Day Break, Sun Down, und eine strahlende kastanienfarbene Substanz - fast die Farbe von getrocknetem Blut - kam aus dem Auspuff. Es handelte sich weder um Rauch noch um Dampf, aber es besaß von beidem etwas. Die Helligkeit nahm in allmählich steigenden Wellenspitzen zu, wie die Kurven eines EEG-Ausdrucks. Ralph schaute zu Boden und sah die Reifenspuren des Lasters im selben Kastanienton auf den Asphalt geprägt. Nachdem er den Parkplatz verlassen hatte, beschleunigte der Lastwagen und dabei nahm das geisterhafte Diagramm aus dem Auspuff das Hellrot von arteriellem Blut an.
    Allerorten war vergleichbar Seltsames zu sehen, Phänomene, die einander in schrägen Pfaden überschnitten, wobei Ralph wieder an das schräge Sonnenlicht denken musste, das vor langer Zeit durch die Ritzen in Dach und Wänden der alten Scheune geschienen hatte. Aber das größte Wunder waren die Menschen, und um sie herum schienen die Auren am deutlichsten umrissen und real zu sein.
    Ein Botenjunge kam aus dem Supermarkt; er schob einen Einkaufswagen voll Lebensmitteln vor sich her und war in den Nimbus eines so brillanten Weiß gehüllt, der wie ein wandelnder Scheinwerfer aussah. Im Vergleich dazu war
die Aura der Frau neben ihm schäbig: die graugrüne Farbe von Käse, der zu schimmeln angefangen hat.
    Ein junges Mädchen rief dem Botenjungen aus dem offenen Fenster eines Subaru etwas zu und winkte; ihre linke Hand hinterließ grelle Kondensstreifen, rosa wie Zuckerwatte, als sie sie in der Luft bewegte. Sie verblassten, kaum dass sie erschienen waren. Der Junge grinste und winkte zurück; seine Hand hinterließ einen gelb-weißen Fächer hinter sich. Für Ralph sah er wie die Flosse eines tropischen Fischs aus. Auch der Fächer begann zu verblassen, aber langsamer.
    Ralphs Angst vor dieser verwirrenden, funkelnden Vision war beträchtlich, aber zumindest im Augenblick stand die Angst hinter Staunen, Ehrfurcht und schlichter Fassungslosigkeit zurück. Das hier war schöner als alles, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte. Aber das ist nicht real, ermahnte er sich. Vergiss das nicht, Ralph. Er versprach sich, dass er es versuchen würde, aber im Moment schien diese mahnende Stimme sehr weit entfernt zu sein.
    Jetzt fiel ihm noch etwas auf: Bei allen Menschen, die er sehen konnte, stieg eine Linie dieses hellen Leuchtens vom Kopf auf. Sie verlief nach oben wie eine Girlande aus Wimpeln oder buntem Krepppapier, bis sie sich verjüngte und verschwand. Bei manchen Leuten verschwand sie anderthalb Meter über dem Kopf; bei anderen waren es drei oder vier Meter. In den meisten Fällen entsprach die Farbe der hellen, aufsteigenden Linie der restlichen Aura - zum Beispiel strahlend weiß bei dem Botenjungen, grau-grün bei der Kundin neben ihm - aber es gab einige auffällige Ausnahmen. Ralph sah eine rostrote Linie von einem Mann in mittleren Jahren aufsteigen, der inmitten einer dunkelblauen
Aura dahinschritt, und eine Frau mit hellgrauer Aura, deren aufsteigende Linie eine erstaunliche (und etwas beunruhigende) Magentafärbung hatte. In einigen Fällen - zweien oder dreien, nicht besonders vielen - waren die aufsteigenden Linien fast schwarz. Diese gefielen Ralph nicht, und er stellte fest, dass die Leute, zu denen diese »Ballonschnüre« gehörten (so einfach und schnell gab er ihnen im Geiste einen Namen), alle unwohl aussahen.
    Logisch. Diese Ballonschnüre sind Indikatoren für Gesundheit … oder Krankheit, in manchen Fällen. Wie die Kirlian-Auren, von denen die Leute Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre so fasziniert waren.
    Ralph, warnte ihn eine andere Stimme, du siehst das alles nicht , okay? Ich meine, ich will höchst ungern ein Langweiler sein, aber …
    Aber wäre es nicht mindestens möglich, dass das Phänomen doch echt war? Dass seine hartnäckige Schlaflosigkeit in Verbindung mit dem stabilisierenden Einfluss seiner luziden, zusammenhängenden Träume ihm einen Blick in eine sagenhafte Dimension eröffnet hatte, die außerhalb der Reichweite

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