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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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werden. Die Kundgebung fand nie statt. Als sich die Befürworter dem Parkplatz näherten, kamen die Anhänger der Friends of Life angerannt und versperrten die Straße, wobei sie ihre eigenen Schilder (MORD IST MORD, SUSAN DAY, BLEIB FORT; STOPPT DAS GEMETZEL AN UNSCHULDIGEN) wie Schutzschilde vor sich hertrugen.

    Die Demonstranten waren von der Polizei eskortiert worden, aber niemand war darauf vorbereitet gewesen, wie schnell Zwischenrufe und böse Worte zu Fußtritten und Faustschlägen eskalierten. Angefangen hatte es damit, dass eine Angehörige der Friends of Life ihre eigene Tochter unter den Befürwortern entdeckt hatte. Die ältere Frau hatte ihr Schild fallen lassen und war auf die jüngere losgegangen. Der Freund der Tochter hatte die ältere Frau abgefangen und versucht, sie festzuhalten. Als Mutter ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte, hatte der junge Mann sie zu Boden geworfen. Das hatte zu einem zehnminütigen Handgemenge und über dreißig Festnahmen geführt, etwa zu gleichen Teilen aus beiden Gruppen.
    Das Bild auf der Titelseite der heutigen News zeigte Hamilton Davenport und Dan Dalton. Der Fotograf hatte Davenport mit Zähne fletschender Miene erwischt, die sich völlig von seinem sonstigen Ausdruck gelassener Selbstzufriedenheit unterschied. Eine Faust hatte er als primitive Geste des Triumphs über den Kopf erhoben. Ihm gegenüber stand der große Zampano der Friends of Life, der Hams FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST-Schild auf dem Kopf trug wie einen surrealistischen Heiligenschein aus Pappe. Daltons Augen waren umwölkt, sein Mund schlaff. Auf dem kontrastreichen Schwarz-Weiß-Foto sah das Blut, das aus seinen Nasenlöchern floss, wie Schokoladensoße aus.
    Ralph wandte den Blick eine Zeit lang davon ab, versuchte sich auf seine Frühstücksflocken zu konzentrieren, und dann musste er wieder an den Tag im vergangenen Sommer denken, an dem er zum ersten Mal einen dieser »Pseudo-Steckbriefe« gesehen hatten, die nun überall in
Derry hingen - den Tag, als er vor dem Strawford-Park fast in Ohnmacht gefallen wäre. Am meisten konzentrierte sich sein Verstand auf die Gesichter: Davenports voll wütender Intensität, als er zum staubigen Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes hineinschaute, Daltons mit einem kleinen, abfälligen Lächeln, als wollte er sagen, dass man von einem Affen wie Hamilton Davenport nicht erwarten konnte, dass er die höhere Moral der Abtreibungsfrage begriff, wie sie beide sehr wohl wussten.
    Ralph musste an diese beiden Mienen und die Distanz zwischen den beiden Männern denken, die sie zur Schau stellten, und nach einer Weile wanderte sein bestürzter Blick zu dem Zeitungsfoto zurück. Zwei Männer standen dicht hinter Dalton, beide trugen Pro-Life-Spruchbänder und beobachteten die Auseinandersetzung aufmerksam. Ralph kannte den hageren Mann mit der Hornbrille und dem schütteren grauen Haarschopf nicht, aber den Mann neben ihm kannte er durchaus. Es war Ed Deepneau. Doch in diesem Zusammenhang schien Ed fast gar keine Rolle zu spielen. Was Ralph fesselte - und ängstigte -, waren die Gesichter der beiden Männer, die seit Jahren benachbarte Geschäfte in der Lower Witcham Street betrieben - Davenport mit seiner Höhlenmenschengrimasse und der geballten Faust, Dalton mit dem leeren Blick und der blutigen Nase.
    Er dachte: Wenn man mit seiner Leidenschaft nicht aufpasst, bringt sie einen so weit. Aber an dieser Stelle sollte es besser aufhören, denn …
    »Denn wenn die beiden Waffen gehabt hätten, hätten sie sich gegenseitig erschossen«, murmelte er, und in diesem
Augenblick läutete es an der Tür - der zur vorderen Veranda. Ralph stand auf, betrachtete das Bild noch einmal und spürte, wie eine Art Schwindel ihn überkam. Eine seltsame, bedrückende Gewissheit ging damit einher: Ed stand da unten, und weiß Gott, was er wollte.
    Dann mach nicht auf, Ralph!
    Er stand einen Augenblick unschlüssig neben dem Küchentisch und wünschte sich verzweifelt, er könnte den Nebel durchdringen, der dieses Jahr Dauergast in seinem Kopf zu sein schien. Dann läutete es noch einmal, und er stellte fest, dass er sich schon entschieden hatte . Es hätte keine Rolle gespielt, wenn Saddam Hussein da unten gestanden hätte; dies war sein Haus, und er würde sich nicht darin verstecken wie ein geprügelter Köter.
    Ralph durchquerte das Wohnzimmer, machte die Tür zur Diele auf und ging die schattige Treppe hinunter.

4
    Auf halbem Weg nach unten entspannte

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