Schlaflos - Insomnia
weinen angefangen hatte. »Sie lernen schnell, oder nicht?«
»Ja«, sagte sie und riss ein Küchentuch von der Rolle neben dem Spülbecken. Sie wischte sich damit die Augen ab. »Ich komme nicht darüber hinweg, wie unbefangen sie bei dir ist, Ralph - so war sie doch vorher nicht, oder?«
»Ich kann mich wirklich nicht erinnern«, log er. Sie war es nicht gewesen. Nicht abweisend, nein, aber längst nicht so anschmiegsam.
»Drück weiter auf den Plastikmantel der Flasche, okay? Sonst schluckt sie zu viel Luft und wird völlig aufgebläht.«
»Roger.« Er sah zu Gretchen. »Alles klar?«
»Bestens. Wie nehmen Sie ihn, Ralph?«
»Nur in der Tasse, das reicht schon.«
Sie lachte und stellte die Tasse außerhalb von Natalies Reichweite auf den Tisch. Als sie sich hinsetzte und die Beine übereinanderschlug, sah Ralph hin - er konnte nicht
anders. Als er wieder aufsah, lächelte Gretchen verhalten ironisch.
Und wenn schon, dachte Ralph. Ein alter Bock bleibt ein alter Bock, schätze ich. Auch ein alter Bock, der es auf nicht mehr als zwei oder zweieinhalb Stunden Schlaf pro Nacht bringt.
»Erzähl mir von deinem Job«, sagte er, als Helen sich setzte und einen Schluck Kaffee nahm.
»Nun, ich finde, sie sollten Mike Hanlons Geburtstag zu einem nationalen Feiertag machen - sagt dir das was?«
»Ein wenig, ja«, sagte Ralph lächelnd.
»Ich war mir ziemlich sicher, dass ich Derry verlassen müsste. Ich habe mich auch bei Bibliotheken im Süden beworben, bis runter nach Portsmouth, aber mir war nicht wohl dabei. Ich werde einunddreißig und lebe erst sechs Jahre hier, aber Derry ist meine Heimat - ich kann es nicht erklären, aber es ist so.«
»Das musst du nicht erklären, Helen. Ich finde, das Zuhause gehört zu den Dingen, die einem Menschen eben zufallen, wie der Teint oder die Farbe der Augen.«
Gretchen nickte. »Ja«, sagte sie. »Genau so.«
»Mike rief mich am Montag an und sagte mir, dass eine Assistentinnenstelle in der Kinderbücherei frei geworden wäre. Ich konnte es kaum glauben. Ich meine, ich laufe schon die ganze Woche herum und kneife mich selbst. Oder etwa nicht, Gretchen?«
»Nun, du bist sehr glücklich gewesen«, sagte Gretchen, »und das war schön anzusehen.«
Sie lächelte Helen zu, und für Ralph brachte dieses Lächeln eine Erleuchtung. Plötzlich wurde ihm klar, dass er
Gretchen Tillbury anstarren konnte, so viel er wollte, und es würde nichts ausmachen. Selbst wenn der einzige Mann im Zimmer Tom Cruise gewesen wäre, hätte das nichts geändert. Er fragte sich, ob Helen es wusste, aber dann schalt er sich wegen seiner Dummheit. Helen mochte vieles sein, aber dumm war sie nicht.
»Wann fängst du an?«, fragte er sie.
»In der Woche des Columbus Day«, sagte sie. »Am zwölften. Nachmittags und abends. Das Gehalt ist nicht gerade fürstlich, aber es wird uns über den Winter bringen, wie sich … meine Situation sonst auch entwickeln mag. Ist das nicht toll, Ralph?«
»Doch«, sagte er. »Riesig.«
Das Baby hatte die halbe Flasche getrunken, und es sah so aus, als hätte es das Interesse verloren. Der Schnuller glitt ihm halb aus dem Mund, und ein Milchtropfen lief ihm vom Mundwinkel herunter zum Kinn. Ralph wischte ihn weg, und seine Finger hinterließen eine Reihe zarter grau-blauer Linien in der Luft.
Baby Natalie griff danach und lachte, als sie sich in ihrer Faust auflösten. Ralph stockte der Atem in der Kehle.
Sie sieht es. Das Baby sieht, was ich sehe.
Aber das ist verrückt, Ralph. Das ist verrückt, und du weißt es genau.
Aber das wusste er nicht. Er hatte es gerade gesehen - hatte gesehen, wie Nat versuchte, die Kondensstreifen der Aura zu packen, die seine Finger hinterließen.
»Ralph?«, fragte Helen. »Geht es dir nicht gut?«
»Doch.« Er sah auf und stellte fest, dass Helen jetzt von einer üppigen elfenbeinfarbenen Aura umgeben war. Sie hatte den Seidenglanz eines teuren Slips. Die Ballonschnur,
die davon aufstieg, war ebenfalls elfenbeinfarben und so breit und flach wie das Band eines Hochzeitsgeschenks. Die Aura um Gretchen Tillbury war dunkelorange und ging an den Rändern ins Gelbliche über. »Wirst du wieder in das Haus einziehen?«
Helen und Gretchen wechselten wieder einen Blick, aber Ralph bemerkte es kaum. Er stellte fest, dass er ihre Gesichter oder Gesten oder ihre Körpersprache nicht sehen musste, um ihre Gefühle zu erraten; er musste nur ihre Auren ansehen. Die gelblichen Ränder von Gretchens Aura wurden dunkler, sodass alles
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