Schlafwandler
trunkene Gesänge.
Ein paar hundert Meter
entfernt lagen einige Katen, die einmal als Wohnungen für die
Angestellten gedient hatten, wie Kraus wusste. Vermutlich hatte die
SS eine davon für ihre eigenen Zwecke renoviert. Sie folgten
einem Schotterweg und stießen bald auf fünf kleine
Häuser, die in einem Halbkreis standen. Aus den Fenstern einer
der Katen schien Licht. Und drinnen spielte ein
Grammophon.
Sie hockten sich ins
hohe Gras und beobachteten die Männer in dem Haus durch ihre
Feldstecher. Einige saßen im Wohnzimmer und tranken Schnaps.
Oben tanzte einer allein für sich und stieß dabei
Stühle und Tische um. Ein anderer saß in der Küche
und weinte, als wäre die Schallplatte so traurig, dass er es
nicht ertragen konnte, sie zu hören. Kraus dachte, dass der
Wachdienst in Sachsenhausen offenbar seinen Tribut
forderte.
Die Musik hörte
unvermittelt auf, und es folgte ein Moment der absoluten Stille. Da
hörten sie es. Es kam nicht aus diesem Haus, sondern aus dem
daneben.
Unverkennbar ein
Stöhnen.
Die Kate war
stockdunkel, kein einziger Lichtschein fiel aus ihren Fenstern. Und
es herrschte dort Ruhe, bis auf dieses merkwürdige Wimmern.
Die Geräusche schienen aus dem Keller zu kommen. Zuerst dachte
Kraus, sie könnten von einem verletzten Tier stammen, aber als
sie näher an das Haus herankrochen, wurden ihre letzten
Zweifel zerstreut. Die Geräusche kamen aus menschlichen
Kehlen. Und nicht nur aus einer. Das Kellerfenster stand weit
offen, war jedoch mit Eisendraht vergittert. Drinnen war es
pechschwarz. Sie wagten es nicht, mit einer Taschenlampe
hineinzuleuchten. Kraus deutete zum Himmel und schlug vor, darauf
zu warten, bis die Wolkendecke aufriss, was regelmäßig
passierte. Also krochen sie zurück und warteten im
Dunkeln.
Wie oft haben wir so
dagesessen und gewartet?, dachte Kraus. Darauf, dass die Wolken
aufrissen. Dass sich die Truppen bewegten. Dass ein Angriff begann.
Fritz schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie
anzuzünden. Wie vertraut Kraus dieser angespannte, geduldige
Ausdruck in seinen Augen vorkam. Wie außergewöhnlich,
dass sie sich erneut in einer solch unheilvollen Pause zwischen den
Ereignissen wiederfanden – in der sie kaum zu atmen
wagten.
Dann riss die
Wolkendecke auf. Von hoch oben sandte eine Milliarde ferner
Galaxien ihr Licht auf die Welt.
Fritz und Kraus
spähten durch den Eisendrahtzaun.
Sie konnten
Silhouetten in dem Kellergeschoss erkennen. Zwei aufrecht stehende
Gestalten.
Frauen. Sehr junge
Frauen. Mit sehr großen Brüsten.
Sie waren vollkommen
nackt.
Kraus brannte die
Galle im Hals, als ihm klar wurde, dass sie mit den Armen hoch
über ihren Köpfen an die Wand gekettet waren. Ihre
Körper hingen schlaff herunter. Sie verdrehten die Augen und
stöhnten beide. Ihnen gegenüber stand ein Bett, dessen
zerwühlte Laken mit Blutflecken übersät waren. An
seinen Pfosten hingen Handschellen, wie in einer mittelalterlichen
Folterkammer. Kraus wich zurück und kämpfte gegen eine
weitere Welle von Übelkeit an, als er versuchte, zu erfassen,
was er da sah.
Die Wachen brauchten
Ablenkung. Ihr Dienst war langweilig und mühsam. Sie suchten
sich ein paar Mädchen aus, mit denen sie sich vergnügten.
Seit undenklichen Zeiten hatten Soldaten das getan. Aber sie
halbtot an eine Wand zu ketten … Warum? Wurde ihre Lust von
diesen … Leiden gesteigert? Auf welche Stufe barbarischen
Wahnsinns waren diese Männer gesunken? Selbst im Weltkrieg
hatte er einen solchen Sadismus, eine solche berechnende
Grausamkeit wie hier auf dieser Insel nicht
erlebt.
Die anderen blickten
ebenfalls hinein. Die Wut schien zwischen ihnen Funken zu schlagen.
Kraus musste sie daran hindern, die armen Geschöpfe zu
befreien. Es würde ihre Mission gefährden. Sie mussten es
richtig anstellen, oder der Wahnsinn würde niemals enden. Gott
allein wusste, wie viele andere hier draußen noch gefoltert
wurden.
Er zwang sie
weiterzugehen und hielt sich an die festgelegte Route. Die
Bäume wurden spärlicher und wurden nach und nach von
einer Ebene mit Sträuchern abgelöst. Kraus wusste, dass
dieser Teil der Insel einmal landwirtschaftlich genutzt worden war.
Fast die gesamte Nahrung für die Insassen der Anstalt von
Oranienburg hatten diese auch selbst angebaut. Kraus hatte Fotos
von Weizenfeldern gesehen, von riesigen Gemüsegärten. Auf
den Weiden hatten Kühe und Schafe gegrast. Es hatte
Pferdeställe und eine moderne Milchwirtschaft gegeben. Wo war
das alles
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