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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Wahnhaft – 34. Schizophren –
13.
    Kraus lehnte sich
haltsuchend an eine Vitrine. Das war schlimmer als alles, was er im
Krieg gesehen hatte. Er konnte nicht hinsehen. Als er sich
abwandte, trat ihm der kalte Schweiß ins Gesicht. Sein Magen
verkrampfte sich. Er musste sich zusammenreißen, damit er
sich nicht übergab. Um ruhig zu bleiben, richtete er den Blick
auf den Boden und versuchte seine Atmung zu kontrollieren. Das
funktionierte ganz gut, bis sein Blick zufällig auf eine
offene Schublade fiel … und den Aktenordner streifte, der
darin lag …
    Die Wirkungen von
Strahlung auf Fortpflanzungsorgane
    Die einzigartige
Charakteristik von Zwerghoden
    Ein Kribbeln erfasste
seine Gliedmaßen. Und er hatte das deutliche Gefühl zu
träumen. Das hier konnte nicht real sein. Er wandelte im
Schlaf und sollte eigentlich im Bett liegen. Aber in Geigers Blick
spiegelte sich die Realität.
    Sie zogen sich
zurück und flohen, als würden sie aus einem Geisterhaus
türmen.
    Sie rannten durch die
nächste Tür und fanden sich in einer Art Aufenthaltsraum
für die Ärzte wieder. Er war mit Holz verkleidet, mit
großen Ledersesseln möbliert, hatte einen Gasofen, und
auf einem Tisch lagen die neuesten Zeitungen. Sie erstarrten. Es
kam jemand durch den Haupteingang herein! Sie begriffen, dass es
die Wachen waren, und drückten sich an die Wand.
    »Warum sollte
ich das tun, wenn es hier drin schöne warme Toiletten
gibt?«, hörte man eine Stimme.
    Sie kam aus dem Foyer
… direkt vor der Tür des Aufenthaltsraums. Die
Toiletten befanden sich am anderen Ende des Ganges.
    »Weißt du,
was diese fetten Kerle sich gestern gegönnt haben? Frischen
Kaffee. Holen wir uns was davon! Sie merken es bestimmt nicht. Nur
ein paar Löffel.«
    Kraus umklammerte
seine Pistole und starrte auf den Boden. Sein Strumpf hatte ein
Loch, aus dem sein großer Zeh lugte. Kein Kaffee!, flehte er.
Kommt nicht herein, um euch Kaffee zu holen.
    »Hast du
vergessen, was Huber passiert ist, als sie herausbekommen haben,
dass er sich am Eigentum der Ärzte vergriffen hat, hm? Zehn
Peitschenhiebe. Das Risiko ist mir zu groß. Ich gehe aufs Klo
und dann wieder zurück in die
Hundehütte.«
    Der eine pfiff ein
fröhliches Lied, während der andere die Toilettentür
schloss.
    »Morgen.«
Das Pfeifen hörte auf. »Ein Transport, um zehn Uhr. Das
wird die Hölle. Die größte Lieferung
bisher.«
    Transport?, fragte
sich Kraus, während er sich den Schweiß aus dem Gesicht
wischte.
    Der andere schrie
durch die geschlossene Tür. »Wenn sie nicht so knauserig
wären, würden sie ein paar Leute mehr hierhin
abkommandieren.« Er furzte laut. »Nur ein Dutzend
Männer. Und die sollen mit fünfundneunzig von denen
fertig werden?«
    Ein Dutzend, dachte
Willi. Waren das alle Wachen, die sie hier hatten?
    »Solange wir
diejenigen mit den Maschinenpistolen sind
…«
    Fünfundneunzig?
Was waren das für Leute?
    »Nur dass die
Hälfte dieser Irren aus der Anstalt ja nicht mal weiß,
was eine Maschinenpistole ist.«
    Die
Toilettenspülung rauschte.
    Die Wachen kehrten
ohne Kaffee in ihre Hütte zurück.
    Kraus und Geiger
hatten es so eilig, wegzukommen, dass sie fast ihre Schuhe im
Treppenhaus vergessen hätten. Unten angekommen, trieben sie
die beiden anderen zurück in den Tunnel. Als Kraus durch den
dunklen, heißen Gang rannte, zitterte er vor Entsetzen. Bei
jedem Schritt durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein elektrischer
Schlag. Dieser Transportbefehl, den Gunther ihm vor etlichen Wochen
gezeigt hatte … für eine
»Spezialbehandlung«. Jetzt verstand er. Gustaves
Schlafwandler waren nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Das
ausländische Blut. Aber Sachsenhausen war mit deutschen,
geistig gestörten Patienten belegt, die aus umliegenden
Nervenheilanstalten kamen. Das bedeutete
»Spezialbehandlung«. Sie wurden für Experimente
missbraucht. Für Sterilisation durch Röntgenstrahlen. Um
ihnen die Hoden, die Eierstöcke und das Hirn zu entfernen.
Hatte es in der Menschheitsgeschichte eine solche Ungeheuerlichkeit
schon einmal gegeben?     
    Als er draußen
war, konnte er gar nicht genug Sauerstoff in seine Lungen bekommen.
Er würgte, keuchte, rang nach Luft. Die anderen wollten
wissen, was er gesehen hatte, aber weder er noch Geiger konnten
sprechen. Gab es Worte für das, was diese Ärzte, diese
Wissenschaftler dort oben taten?
    Wer waren in dieser
Anstalt die Verrückten?
    Lutz hob seine
verstümmelte Hand. »Hört!«
    Durch die kalte Luft
drang Musik zu ihnen,

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