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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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jetzt? Und wo waren die restlichen Gefangenen, die sie
hierhergeschafft hatten? Ihm kam ein entsetzlicher Gedanke. Nein,
Gott behüte, doch nicht in den Gräbern, die sie vorhin
gesehen hatten!
    Und dieser Gestank? Er
war sich absolut sicher, dass er ihn sich nicht nur eingebildet
hatte. Woher auch immer er kam, seine Quelle musste in der Richtung
liegen, in die sie jetzt gingen. Aber jeder Schritt brachte sie
näher ans Ende der Insel. In etwa anderthalb Kilometern
würden sie wieder die Fußgängerbrücke zur
Toteninsel erreichen. Wenigstens war die Wolkendecke jetzt
gänzlich aufgerissen. Das helle Licht des Halbmondes leuchtete
ihnen den Weg. Durch das Gestrüpp von abgestorbenem Efeu und
hohen Gräsern erreichten sie die Ruinen eines
Hühnerstalls, eine ausgebrannte Scheune, die Fundamente eines
Gewächshauses, neben dem noch zerbrochene Glasscheiben lagen.
Dann traf es sie wie ein Pesthauch aus den Eingeweiden der
Hölle. Es war schlimmer als verwesendes Fleisch. Es war der
widerlichste Geruch, der ihnen jemals in die Nase gestiegen
war.
    Sie stolperten,
husteten, würgten und packten sich an die Kehlen, als
hätten sie Senfgas eingeatmet. Kraus hatte das Gefühl, er
müsste ohnmächtig werden, wäre da nicht der frische
Wind vom Fluss gewesen. Bei jedem weiteren Schritt wurde der Geruch
widerlicher, bis schließlich zweifelsfrei klarwurde, woher er
kam. Vor ihnen lag eine Reihe von Holzschuppen, die im Mondlicht
deutlich zu sehen waren.
    Eine Sekunde lang
schossen Kraus all die Fotos durch den Kopf, die er studiert hatte,
und es wurde ihm klar, was dieser Ort einmal gewesen war: ein
Schweinehof. Oranienburg war berühmt für seinen
Räucherschinken und sein Schweinefleisch. Sie hatten eine
ganze Stadt aus Schweinen hier draußen gehabt, Hunderte und
Aberhunderte von Schweinen. Jetzt waren die baufälligen
Schuppen von doppelten Reihen Stacheldraht umgeben. Ein Schild
über einem verschlossenen Tor verkündete: Quarantäne! Der Gestank war so
schlimm, dass Lutz sich übergeben musste.
    Sie sanken zu Boden
und rangen nach Luft, die vom Flusslauf hinüberwehte,
während sie darauf warteten, dass Richter den Draht
zerschnitt. Als er fertig war, rafften sie ihre letzte Energie
zusammen und krochen hinein. Durch die zerborstenen Fensterscheiben
leuchtete das helle Mondlicht in die Schweinekoben. Eine Reihe von
dreistöckigen, schlichten Holzpritschen erstreckte sich
über die gesamte Länge des Gebäudes. Auf jeden
verfügbaren Zentimeter davon waren menschliche Wesen
gepfercht. Es mussten Hunderte von ihnen sein, Männer links,
Frauen rechts. Sie lagen eng aneinandergepresst wie
Wollbündel, alle in dieselben Anstaltskittel gehüllt, in
dem auch die Meerjungfrau aufgefunden worden war. Ihre Köpfe
waren ausnahmslos rasiert. Je länger Kraus sie betrachtete,
desto klarer wurde ihm, dass man an ihnen allen …
Experimente gemacht hatte. Einige hatten riesigen Narben auf ihren
Oberkörpern oder schrecklich eiternde Verbrennungen. Andere
hatten bizarre Ekzeme in perfekten geometrischen Mustern, als
wären sie absichtlich infiziert worden. Am Fußende jeder
Pritsche war ein Klemmbrett befestigt. Geiger bestätigte, dass
es sich dabei um medizinische Tabellen handelte.
    Die meisten schienen
zu schlafen oder waren bereits tot. Einige kauerten sich um einen
Holzofen im Mittelgang. Unter ihnen bemerkte Kraus drei fast zum
Skelett abgemagerte Frauen. Eine stand schlaff auf improvisierten
Krücken, die anderen hockten auf einem niedrigen
Bänkchen. Alle hatten Meerjungfrau-Beine, wie Gina Mancuso.
Sie zeigten nach hinten! Entsetzen durchfuhr ihn wie ein Schlag,
als er eine von ihnen erkannte. Die großen, dunklen Augen,
die so viel Stolz und Überlegenheit ausgestrahlt hatten, bevor
sie auf Gustaves Jacht hypnotisiert worden war, wirkten jetzt
vollkommen ausdruckslos. Die griechische Gräfin, Melina von
Auerlicht. Ein paar Pritschen weiter untersuchten zwei winzige
Frauen ihre Brüste … die ungarischen Zwerge. Aber warum
lagen sie auf der Seite der Männer? Ihm fielen schlagartig die
Gläser mit den kleinen Organen darin ein, und die Akte Einzigartige
Charakteristik von Zwerghoden. Kraus schlang die Arme um seinen
Leib, als ihm die finstere Erkenntnis dämmerte, und
stöhnte auf.

SECHSUNDZWANZIG
    Drei Tage später
saß er im Zug nach Paris.
    Er schaffte es, fast
die ganze Fahrt über zu schlafen, doch jedes Mal, wenn er wach
wurde, überschwemmten ihn die Erinnerungen. In den vergangenen
Tagen war er sich manches Mal ganz

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