Schlafwandler
IST
THERAPIE .
Die schmiedeeisernen Tore waren schon lange als Kriegsmaterial
eingeschmolzen und erst kürzlich durch Stacheldrahtrollen
ersetzt worden, die sich nach innen in der Dunkelheit verloren.
Unverkennbar ein Zaun. Kraus war vorbereitet. Unter Bedingungen,
die weit besser waren als damals an der Westfront, schnitt Richter
ihnen nicht nur einen schönen Gang durch den Draht, sondern
schloss ihn auch wieder, nachdem sie die Barrikade passiert hatten.
Niemand sollte wissen, dass sie überhaupt hier gewesen
waren.
Hinter dem Torhaus
stieg die Straße weiter an und beschrieb eine Biegung um ein
zugewachsenes Oval, das einst ein Ententeich gewesen war. In den
Resten sah Kraus eine ägyptisch wirkende Statue einer
Göttin, die eine Harfe schlug und die jetzt bis zum Hals von
Efeu überwuchert war. Dann – wie um der theatralischen
Wirkung willen – riss die Wolkendecke plötzlich auf, und
das schimmernde Mondlicht fiel auf die alte Anstalt. Wie
angewurzelt blieben sie stehen und betrachteten das Gebäude:
ein anderthalb Kilometer langes Kloster für die
Verrückten. Direkt vor ihnen lag das imposante
Verwaltungsgebäude, ein neugotisches Schloss mit einem halben
Dutzend Türmchen, die sich in den Himmel zu bohren schienen.
Rechts und links davon erstreckten sich endlos die
dreistöckigen Ziegelgebäude, die im rechten Winkel
versetzt waren, um das gigantische »V« zu bilden. Turm
um Turm. Fenster um Fenster. Jedes mit eisernen Gitterstäben
davor, die in den Zement eingelassen waren. Wenn jemals ein
Gebäude verflucht gewirkt hat, dachte Kraus, dann dieses hier.
Schmutzige Vorhänge flatterten im Wind. Ganze Dachabschnitte
waren eingestürzt. Fledermäuse flatterten hinein und
heraus. Aber wie klar er immer noch die Gestalten vor Augen hatte
… die aus den vergitterten Fenstern starrten …
über die Stationen wanderten … die Rasenflächen
pflegten. Kein einziger Lichtschein drang aus dem Haus. Kein
Zeichen von Leben. Aber überall die
Geister.
Die Männer
hielten sich im hohen Gras und ließen gut fünfzehn Meter
Abstand zwischen sich und diesem baufälligen Monster,
umkreisten es vorsichtig Flügel um Flügel, Station um
Station, und suchten nach Lebenszeichen. Kirkbrides Theorie
verlangte eine klare Aufteilung der Patienten nach ihrem Alter,
ihrem Geschlecht, der gesellschaftlichen Klasse und der
ärztlichen Diagnose. Die weniger Gestörten wurden
näher am Zentrum untergebracht, die Gewalttätigeren in
den entlegeneren Flügeln. Als sie sich dem Ende des letzten
Flügels näherten, der Nummer 27, war Kraus fast schon
bereit, sich selbst bei den vollkommen Verrückten einzuweisen.
Das Gebäude war leer. Wie hätte auch jemand an einem
solchen Ort medizinisch arbeiten sollen? Das war doch unsinnig.
Vielleicht hatte er das alles missverstanden?
Das konnte doch nicht
sein. Oder doch?
Ein Arm in einer
Schlinge hielt ihn auf. Fritz deutete nach vorn. Hinter der Ecke
… sahen sie einen unverkennbaren Schein.
Sie glitten noch
tiefer in die Schatten und bewegten sich durch das hohe Gras zur
Rückseite des Gebäudes. Das Licht wurde heller. Kraus
sah, dass es nicht aus der Anstalt kam, sondern von mehreren
Lampen, die an der Außenwand angebracht waren. Sie
beleuchteten ein Wachhäuschen, in dem zwei Männer in
schwarzer Uniform saßen. Kraus stellte den Feldstecher scharf
und erkannte auf ihren Mützen silberne Totenschädel und
gekreuzte Knochen. Der Abschnitt des Gebäudes, den sie
bewachten, war ganz offensichtlich renoviert worden. Er hatte neue
Fenster. Ein neues Dach. Kraus schnürte es die Kehle zu, als
er die moderne Schrift über dem Haupteingang sah. Institut für
Rassenhygiene – Lager Sachsenhausen.
Fritz schlug ihm auf
die Schulter. »Du bist ein Genie, Willi! Aber wie kommen wir
rein?«
Er war kein Genie, er
arbeitete nur hart. Stundenlang hatte er die Pläne der Anstalt
studiert, und laut seinen Berechnungen sollte sich im Westen ein
kleines Kraftwerk befinden. Er hob den Feldstecher an – es
war da. Der Schornstein erhob sich in kaum hundert Metern
Entfernung. Ein halbes Jahrhundert lang hatte das kompakte
Gebäude die gesamte Einrichtung mit Dampf versorgt, der mit
Hilfe von Tunneln, durch den riesige Kupferrohre liefen, in die
Anstalt geschickt wurde. Die Kupferrohre waren dem Krieg zum Opfer
gefallen. Aber die Gänge mussten noch da sein.
Das vermoderte Holz
des alten Tors gab nach einem kurzen, energischen Tritt nach.
Hundert Fledermäuse flatterten rauschend auf und
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