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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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unmerklich fühlte er sich
besser, so wie Hedda es vorhergesagt hatte. Er war wieder ein wenig
glücklicher darüber, ein Mitglied der menschlichen Rasse
zu sein.
    Doch selbst diese Oase
konnte ihn nicht daran hindern, über Paula nachzudenken,
daran, was sie ihr angetan hatten. Was er ihr angetan hatte. Konnte
er sich das jemals verzeihen? Vielleicht, wenn … wenn er
diese Nazilager vom Antlitz der Erde ausradierte. Das würde
nicht leicht werden. Schon deshalb nicht, weil selbst sein
treuester Verbündeter, von Schleicher, ungläubig, ja fast
feindselig reagiert hatte, als er seinen Bericht
    
    gehört hatte.
»Solche Dinge kann es einfach nicht geben!« Er hatte
getan, als wären das die Hirngespinste eines Trunkenboldes.
»Wo sind Ihre Beweise? Beweise, Herr Inspektor?« Kraus
ballte die Fäuste in seinen Taschen und setzte noch etwas auf
seine Liste für die Thorrablot-Nacht: ein Filmteam.
    Hedda hatte recht, was
das Wetter anging. Es war hier wärmer als in Berlin. Die Luft
war irgendwie zarter, leichter einzuatmen. Er knöpfte den
Mantel auf und ließ seinen Schal offen herunterhängen.
Hier konnte man fast vergessen, dass es so etwas wie die Nazis gab.
Und als er an dem wunderbaren Brunnen der Medici vorbeiging, wem
lief er da in die Arme? Seinem ältesten Schulfreund, Mathias
Goldberg.
    »Willi!«
Sie umarmten sich wie Brüder.
    Goldbergs Erfolg als
»Starkstrom«-Künstler hatte ihm in Berlin zu
einiger Berühmtheit verholfen. Früher einmal mochte Paris
die Stadt der Lichter gewesen sein, aber diese Fackel war
weitergereicht worden. Jetzt leuchtete kein Ort auf der Welt so
hell wie die Hauptstadt Deutschlands. Ihre Straßen brannten
förmlich von elektrischer Lichtwerbung, von blitzenden,
funkelnden Bildern, die die Nacht verdrängten. Mathias war
einer der Pioniere. Für seine genialste Arbeit am
Breitscheidplatz hatte er über viertausend Glühbirnen
verwendet, um zu zeigen, wie ein schmutziges Kleid sauber wurde.
Glitzerndes blaues Wasser, Waschpulver, das aus hellgrünen
Paketen rieselte, und als Ergebnis: ein strahlend gelbes Kleid. Es
hatte ihn zutiefst schockiert, dass sein Name auf der Naziliste der
»entarteten« Kultureinflüsse stand, als Verbreiter
jüdischen Handels.
    »Gott sei Dank,
du hast es außer Landes geschafft! Waren diese Dreckskerle
auch hinter dir her, mein Freund?«
    Kraus begriff, dass er
ihn für einen Emigranten hielt. »Nein. Nein, ich bin nur
wegen …«
    »Es sind so
viele!« Mathias packte Kraus’ Ärmel. »Du
glaubst es erst, wenn du sie selber siehst.«
    Er nahm Kraus mit in
das berühmte Café
Dôme ,
wo sich um die Tische im hinteren Teil eine Gruppe deutscher
Emigranten scharte. Es mussten mindestens dreißig Personen
sein, die meisten von ihnen waren Juden, aber nicht alle. Kraus
fühlte sich verpflichtet, sich wenigstens einige Minuten zu
ihnen zu setzen. Es waren Artisten unter ihnen, Sozialdemokraten,
ein protestantischer Pastor. Einige hatten Todesdrohungen erhalten:
»Verlasse Deutschland oder stirb!« Andere konnten ein
eingeschlagenes Fenster in ihrer Wohnung oder Hakenkreuze an ihrer
Tür nicht mehr ertragen. Sie alle hatten ihr Heim und ihre
Arbeit aufgegeben, alle Wurzeln gekappt und waren in einem fremden
Land gestrandet. Anwälte ohne Klienten. Ärzte ohne
Patienten. Geschäftsleute ohne Geschäft.
    »Der
europäische Geist kapituliert.« Ihre Rede klang
düster und gehetzt.
    »Menschliche
Gefühle gelten nichts mehr. Es zählt nur noch brutale
Macht.«
    Je länger Kraus
ihnen zuhörte, desto stärker wurde in ihm der
verzweifelte Drang, zu fliehen, nicht aus Deutschland, sondern vor
ihnen. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. War das
ein Ausblick auf seine eigene Zukunft? Bitte nicht, lieber
Gott. Thorrablot ,
sagte er sich immer wieder. Es kommt alles auf das Fest des Gottes
Thor an.
    »Und was sie
für ein Vergnügen am Quälen haben. Das ist der
reinste Sadismus!«
    Kraus hustete heftig,
sprang vom Tisch auf und rang nach Luft. Er entschuldigte sich und
floh wieder in den Pariser Sonnenschein, aber erst, nachdem er
Mathias versprochen hatte, sich bei ihm zu melden. Obwohl er genau
wusste, dass er das nicht tun würde.
    Stattdessen verbrachte
er drei wundervolle Tage mit seinen Söhnen. Gott, wie sehr er
sie liebte!
    »Euer
Französisch hat sich wirklich sehr verbessert.« Er
musste sie immerzu anfassen. »Und wie gut ihr euch mit der
Metro auskennt.«
    Die Großeltern
hatten ihnen nicht nur weit geschnittene Jacken im Pariser

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