Schlafwandler
sicher gewesen, dass all diese
Gräuel auf dieser kleinen Insel nur Halluzinationen, nur ein
bizarrer Traum sein konnten, aus dem er gleich aufwachen
würde. Dann stellte er sich diese Gläser mit den darin
schwimmenden Organen vor, die halbtoten, an die Wand geketteten
Mädchen, die stinkenden Baracken mit den zusammengepferchten
Gefangenen – und er wusste, dass alles nur zu real
war.
Die ganze Mission war
abgelaufen wie ein Uhrwerk. Sie waren über die Havel
zurückgefahren. Hatten die Boote zurückgebracht. Richter
war geblieben, Geiger und Lutz waren in die Züge gestiegen,
die sie nach Hause brachten. Aber keiner von ihnen würde je
wieder derselbe sein. Wie sollten sie auch, nach allem, was sie
gesehen hatten? Diese SS-Ärzte waren hundertmal kranker als
die verrücktesten Schizophrenen. Und doch … sie galten
als hoch angesehene Spezialisten, als die Besten auf ihrem Gebiet.
Es musste jemanden geben, der diese Operation mit einem
Vermögen finanzierte. Nach so vielen Jahren bei der Polizei,
nach all dem Schrecklichen, das er im Krieg gesehen hatte …
Kraus hatte nicht geglaubt, dass ihn noch irgendwelche Niederungen,
auf die menschliche Wesen herabsinken konnten, schockieren
könnten. Aber er war schockiert. Er war wirklich
entsetzt.
Nachdem er am Gare du
Nord angekommen war, fuhr er mit dem Taxi direkt zu Heddas Wohnung.
Er sehnte sich danach, die Mienen der Jungs zu sehen, wenn er so
unerwartet auftauchte.
»Mon
Dieu!«, schrie seine Großtante, als
sie ihm die Tür öffnete. »Warum hast du uns nicht
gesagt, dass du kommst?« Sie küsste ihn schmatzend auf
die Wange und erstickte ihn fast mit Chanel No. 5. Ihre
Armbänder klingelten, und ihre Ringe funkelten, als sie ihn
ins Wohnzimmer führte.
»Leider sind die
Kinder nicht da, Wilhelm. Sie machen mit ihren Großeltern
einen Stadtbummel. Sie wollten zu Mittag essen und ins Museum
gehen. Und ins Kaufhaus Lafayette. Sie brauchen dünnere
Jacken. Die, die sie aus Berlin mitgebracht haben, sind viel zu
dick. Hier bei uns wehen keine sibirischen Winde wie bei
euch.«
Die Schwester seiner
Schwiegermutter hatte vor Jahrzehnten einen Franzosen geheiratet
und lebte seitdem in Paris. Trotz ihres beinah lächerlich
starken deutschen Akzents hielt sie sich jetzt für eine Grande
Dame und
bestand darauf, dass Kraus augenblicklich einen Aperitif zu sich
nahm, um sich »zu beleben«.
»Du siehst nicht
gut aus, mon
fils .« Sie spielte nervös
mit ihrer Perlenkette herum. »Gar nicht gut. Du bist so
blass. Und deine Augen … Aber die Leute, die aus Deutschland
hierherkommen, sehen alle nicht gut aus. Nach ein paar Tagen hier
bist du wieder wie neu. Wie lange bleibst du? Wir haben jede Menge
Betten frei.«
»Nur ein paar
Tage. Ich musste die Jungs sehen.«
»Natürlich.
Es gibt jedoch keinen Grund, sich Sorgen zu machen.« Sie
leistete ihm bei einem Gläschen Sherry Gesellschaft.
»Diese kleinen Goldstücke amüsieren sich
königlich. Stefan hat mir erst neulich gesagt, dass er
für immer und ewig in Paris bleiben könnte. Sie sind
wirklich kleine Engel. Und so gut erzogen. Beide.«
»Dank Ava. Ist
sie bei ihnen?«
»Leider ist Ava
bis Donnerstag fort.« Hedda hob eine ihrer makellos gezupften
Brauen. »Sie macht Urlaub, in der Provence.«
Kraus’ Brust
schnürte sich zusammen. »Allein?«
Die Grande
Dame lächelte ironisch.
»Nein, natürlich nicht, mein Lieber. Sie ist mit einer
wundervollen, charmanten jungen Dame gefahren. Einer gewissen
Marianne.« Hedda zog die Augen zusammen. »Wilhelm, du
solltest dich jetzt ein bisschen hinlegen. Du wirkst sehr
ermattet.«
Die Art von
Erschöpfung, die auf Kraus lastete, ließ sich jedoch
nicht von einem Mittagsschlaf vertreiben. Stattdessen entschied er
sich für einen ausgedehnten Spaziergang. Es war schon Jahre
her, seit er das letzte Mal durch Paris geschlendert war. Sein
Entzücken über den Anblick der jungen Damen, die in ihren
eleganten Kostümen über die Champs-Élysées
flanierten, überraschte ihn. Ebenso wie die Pärchen, die
auf Parkbänken schmusten, und die lebhaften Unterhaltungen in
den Cafés. Alles hier war so viel weniger hektisch, weniger
angespannt als in Berlin. So viel hübscher. Er ging über
den Fluss, spazierte durch die schmalen Gassen des Quartier Latin
und in den Jardin du Luxembourg. Dessen schimmernde Statuen und
gepflegten Wege erschienen ihm wie die reine Verkörperung der
Zivilisation, gezähmte Natur – die der Welt und die der
Menschen. Allmählich, beinahe
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