Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
wie die Reichskanzlei. Es war weit älter und
düsterer als das glitzernde Adlon, gehörte jedoch fraglos
zu den besten Hotels der Stadt. Als Kraus die Messingdrehtür
betrat, fiel ihm ein, dass die obersten Stockwerke erst
kürzlich an die Nazipartei vermietet worden war. Konnte es da
verwundern, dass er sich in seine Armeezeit zurückversetzt
fühlte, als er die feindlichen Linien durchstieß? Im
Foyer wimmelte es förmlich von Nazis, hauptsächlich von
Braunhemden, aber es fand sich auch eine ganze Rotte von
Schwarzhemden. Schwarz war die Farbe der Schutzstaffel, der SS.
Ursprünglich als Hitlers Leibgarde gebildet, hatte sie sich
allmählich zu einer Art Geheimdienst der Partei entwickelt. In
der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung mit der
kommunistischen Rotfront lieferten die Schwarzhemden das Wer, Was
und Wo, mit dem sich die Braunhemden herumprügeln
durften.
    Eisige Dornen stachen
Kraus in den Nacken, als er sich unter diese Meute mischte. Er
hatte das Gefühl, als wäre seine Nase etliche Zentimeter
gewachsen und als säße eine große, gelbe
Narrenkappe auf seinem Kopf. Nach etlichen Schritten über den
roten Teppich bemerkte er jedoch, dass sowohl die Braun- als auch
die Schwarzhemden zur Seite traten und eine Gasse für ihn
bildeten. Warum denn das? Er verstand es nicht, bis es ihm
schließlich dämmerte. Für die Begegnung mit Ernst
Röhm, einem echten Soldaten, hatte er sich sein Eisernes Kreuz
auf die rechte Brust seines Jacketts geheftet. Zweifellos ein
höchst durchschaubarer Schachzug. Aber andererseits hatte er
sich gedacht, er könnte jede Hilfe gebrauchen, die er bekommen
konnte. Und jetzt wirkte der Orden wie das Wunder von Moses und
teilte das schwarzbraune Meer, brachte ihm Nicken und sogar
militärische Ehrenbezeugungen ein. Warum auch nicht? Er
verdiente sie schließlich auch.
    Eine Woche vor der
großen Frühjahrsoffensive von 1918 hatte er eine
Abteilung von fünf Männern, unter denen sich auch Fritz
von Hohenzollern befunden hatte, tief hinter die französischen
Linien geführt, um die feindliche Artillerie und ihre
Truppenstellungen auszukundschaften. Nachdem sie über eine
Woche lang Berichte mit Brieftauben zurückgeschickt hatten,
waren sie entdeckt worden und hatten in einem Bauernhof in der
Falle gesessen. Dort hatten sie sich ein Feuergefecht mit einer
ganzen französischen Kompanie geliefert. Kraus war
zurückgeblieben, um die Flucht seiner Männer ins
Niemandsland zu decken. Drei Tage später hatte die ganze
deutsche Armee mit Erstaunen vernommen, dass er es ebenfalls lebend
auf die deutsche Seite geschafft hatte. Im Krieg hatten viele
Soldaten Tapferkeitsmedaillen verliehen bekommen, und etliche sogar
das Eiserne Kreuz. Aber nur sehr wenige hatten den höchsten
deutschen Orden erhalten: das Eiserne Kreuz Erster
Klasse.
    In diesem Moment ging
ein Ruck durch die Meute im Foyer, und alle Männer standen
stocksteif da.
    Aus dem Aufzug kam
eine kleine Gruppe von Männern, denen alle hastig Platz
machten. Kraus gefror das Blut in den Adern. Die korpulente Gestalt
von Hermann Göring in dieser Gruppe war nicht zu verkennen. Er
war die Nummer zwei der Nazis. Trotz seines Rufs als furchtloses
Flieger-As im Weltkrieg sah er in den weiten, weißen
Uniformhosen absolut lächerlich aus. Sein Schmerbauch hing wie
ein Zeppelin über seinem Gürtel. Am Rand der Gruppe
humpelte ein sichtlich wütender Joseph Goebbels, der brillante
Propagandist. Links von ihm marschierte der gutaussehende
Parteisekretär der Nazis, Gregor Strasser. Und in der Mitte
ging ein Mann, der unaufhörlich seine Haartolle zur Seite
schob, Adolf Hitler persönlich. Er schrie so laut, wie es
seine berühmten Lungen hergaben. »Das ist Verrat der
schlimmsten Sorte, Strasser! Sie können sich da nicht
herausreden!«     
    »Im Gegenteil,
mein Führer!«, verteidigte sich Strasser. »Ich
denke nur an die Partei. Und wie wir sie vor dem Bankrott und dem
Ruin retten können.«
    »Wagen Sie es
nicht! Wagen Sie das nicht!« Hitler blieb unvermittelt stehen
und hob die Faust, als wollte er ihn schlagen. »Von
Schleicher bietet Ihnen die Vize-Kanzlerschaft an und Sie erwidern,
dass Sie es in Erwägung ziehen? Jeder Idiot sieht doch, dass
er damit versucht, unsere Einigkeit zu unterminieren! All das zu
zerstören, wofür ich ein Jahrzehnt geschuftet habe: ein
Volk, eine Partei, ein Führer!«
    Der wütende
Führer kehrte dem Sekretär effektvoll den Rücken zu
und marschierte hastig weiter durch das Foyer. Seine kurze

Weitere Kostenlose Bücher