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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Himmels willen, Kraus.
Überstürze es nicht. Das ist nicht
nötig.«
    »Geh nicht
wieder zur Arbeit.«
    Er hob ihr Kinn sanft
mit einem Finger an.
    Ihre Blicke begegneten
sich.
    »Glaubst du, ich
weine, weil ich diese roten Stiefel vermissen würde? Jetzt iss
diese verdammte Suppe, bevor sie kalt wird.«
    Während des
Desserts schnitt sie das Thema Gina Mancuso wieder an. »Ich
muss immerzu an sie denken. Wenn ich schlafe. Wenn ich wach bin. Es
ist wie ein Geist, der mich verfolgt. Er rät mir, mich an
Gustave zu halten.« Sie ließ die Gabel sinken.
»Das Mädchen war wirklich etwas Besonderes, Kraus. Ein
Turm der Stärke. Ich meine das nicht körperlich, sondern
in ihrem Inneren. Sie war eine echte Kämpferin. Vielleicht war
es ihr amerikanischer Geist, ich weiß es nicht. Ich kann mich
noch daran erinnern, wie sie einmal um eine Gehaltserhöhung
gestritten hat. Sie hatte keine Angst davor, die hohen Tiere zu
konfrontieren, so wie wir anderen. Aber wohin hat es sie gebracht,
hm? In den Fluss.«     
    Kraus hatte ebenfalls
darüber nachgedacht, was Gina Mancuso wohl im Fluss hatte
enden lassen. Und die ganze Zeit war er davon ausgegangen, dass
eine andere Person dahintersteckte, dass sie ermordet worden war.
Doch jetzt kam ihm ein Gedanke. Wenn derjenige, der ihre Beine
verunstaltet hatte, ihren Tod wollte, warum hatte er sie dann nicht
einfach begraben? Warum sollte diese Person sie in den Fluss werfen
und damit das Risiko eingehen, dass sie entdeckt wurde?
    Paulas Worte hallten
in seinem Kopf wider. Eine echte Kämpferin. Ein
Turm der Stärke. Wenn das stimmte, dann war sie
vielleicht gar nicht in den Fluss geworfen worden. Kraus dachte an
dieses merkwürdige, ruhige Lächeln auf ihren toten,
blauen Lippen, das auf ihn fast triumphierend gewirkt hatte.
Vielleicht war sie freiwillig ins Wasser gestiegen. Vielleicht war
sie … entkommen. Wenn ja, wäre dem Chirurg, der sie so
verunstaltet hatte, keine andere Wahl geblieben, als zu versuchen,
die Tat einem anderen Kandidaten in die Schuhe zu schieben …
zweifellos einem Kameraden.
    Am nächsten
Morgen schneite es. Es waren dicke, schwere Flocken, die schmolzen,
sobald sie auf dem Boden landeten. Die Straßenbahnen
schimmerten über den grauen Pflastersteinen. Und die meisten
der vielen kleinen Dackel trugen Winterleibchen.
    Am Bahnhof Zoo starrte
Kraus erneut auf die Schlagzeilen. Diesmal fühlte es sich an,
als hätte man ihm ein Schwert zwischen die
Schulterblätter gerammt. DOKTOR BEGEHT SELBSTMORD!
BERÜHMTER ORTHOPÄDE SCHIESST SICH IN DEN
KOPF!
    Einen Moment blieb
Kraus regungslos stehen, während die Menschen an ihm
vorbeistürmten, und kniff die Augen fest zusammen. Das war
also die Art und Weise, wie Ernst Röhm arbeitete. Er hatte
Meckel im Dunkeln gelassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Kraus sah
dieses gruselige, von Narben entstellte Gesicht vor sich. Ein
Frösteln überlief ihn, das ihm bis in die Knochen zu
dringen schien, als ihm klar wurde, dass ab jetzt jeder Schritt,
den er tat, hinter die feindlichen Linien führte. Als er sein
Büro erreichte, hatte sich eine ruhige Entschlossenheit in ihm
breitgemacht. Er schloss die Tür hinter sich und nahm den
Hörer ab. »Ava«, sagte er, als seine
Schwägerin abnahm. »Ich möchte dich um etwas
ungeheuer Wichtiges bitten. Ich kann es dir jetzt nicht
erklären, aber es ist von größter Bedeutung, dass
du genau tust, was ich … Ava? Was ist los? Weinst
du?«
    Es dauerte einen
langen, schmerzlichen Moment, bevor sie antworten
konnte.
    O mein Gott, dachte
Kraus. Nicht die Jungs!
    »Ich habe meine
Arbeit verloren, Willi.«
    »Was? Fritz hat
dich gefeuert?«
    »Nein, nicht
Fritz. Der Verlag. Ullstein entlässt die Hälfte der Juden
aus der Belegschaft.«
    »Aber das ist
absurd. Die Ullsteins sind doch selbst Juden!«
    »Sie glauben,
dass die Nazis zu mächtig werden. Sie überschlagen sich
förmlich bei dem Versuch, nicht anzuecken und sich bei ihnen
ja nicht zur Zielscheibe zu machen.«
    Kraus wusste einfach
nicht, was er antworten sollte.
    »Hör
zu«, meinte er dann. »Das macht die Sache, um die ich
dich bitten wollte, nur einfacher. Ich möchte, dass du die
Jungs außer Landes schaffst, Ava. Und zwar
sofort.«
    »Das kann doch
nicht dein Ernst sein!«
    »Bring sie nach
Paris. Mit dem Wagen oder dem Zug, das ist mir gleich. Aber reist
sofort ab. Bleibe bei deiner Tante Hedda. Oder steig in einem Hotel
ab, wenn es sein muss.«
    »Willi, sie
haben noch Schule.«
    »Das ist egal.
Du wirst sie sofort

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