Schlafwandler
Meute auf Sie
aufpasst.«
»Tatsächlich?«
»Wer weiß
… vielleicht sind Sie ja nicht so klug, wie Sie glauben. Und
selbst wenn doch, reicht ein scharfer Verstand manchmal nicht aus.
Bei diesen Typen brauchen Sie eine gewisse Gerissenheit. Sie
mögen Frack und Zylinder tragen, aber sie sind Kanalratten,
einer wie der andere.«
»Zufälligerweise sind
einige meiner besten Freunde ebenfalls
Kanalratten.«
»Ach,
Sie!« Sie gab ihm einen spielerischen Klaps.
»Haben Sie schon
gefrühstückt? Um die Ecke gibt es ein wundervolles
Frühstücksrestaurant.«
»Es wäre
mir eine Ehre.« Sie drückte geziert ihre Handtasche an
sich.
Als er die Tür
öffnete, tat Ruta so, als hätte sie nicht
gelauscht.
»Fräulein
Hoffmeyer und ich gehen kurz weg, Frau Garber. Ich komme
später vorbei und hole meine Post ab.«
»Jawohl, Herr
Kriminalinspektor«, erwiderte sie trocken. »Bon
appétit.«
Sie gingen geradewegs
in seine Wohnung.
Nach Vickis Tod und
seit die Jungs in Dahlem wohnten, war er in eine kleine, aber
gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nürnberger
Straße gezogen, nur einen Häuserblock vom Tauentzien
entfernt, wo Paula arbeitete. »Das Viertel kommt mir bekannt
vor«, meinte sie, als er ihr die Tür aufhielt. Das tiefe
Glockengeläut von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
folgte ihnen hinein.
Das Wohnzimmer war
sonnendurchflutet, und man blickte von dort auf die
geschäftige Straße hinab, mit ihren quietschenden
Straßenbahnen und dem regen Verkehr. Zwei der vier Wände
verschwanden vollkommen hinter Buchregalen. Paula sah sich erstaunt
um.
»Was ist das?
Eine Bibliothek?«
An der Wand, die den
Fenstern gegenüberlag, blieb sie an den etwa ein Dutzend alten
Familienfotos stehen und betrachtete sie. Sie war sichtlich
fasziniert von den bärtigen Männern mit den komischen
Hüten, von der Hochzeitszeremonie unter kunstvollen
Baldachinen und den jungen Männern, die sich in ihre
hebräischen Gebetsschals gewickelt hatten. Vor allem
bezauberte sie ein Foto, das den kleinen Kraus an seinem ersten
Schultag zeigte, 1903. Darauf trug er einen Matrosenanzug mit einer
dreiviertellangen Hose und hielt eine bunte Schultüte in den
Armen, die mit Früchten und Süßigkeiten
gefüllt war.
»Wie
entzückend!«
Daneben hing ein
Porträt von etwa zwanzig jungen Männern in den
kaiserlichen Uniformen des Krieges. Sie sah, dass Kraus Hauptmann
gewesen war und das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen bekommen
hatte. Es schien sie nicht zu überraschen. Bewegter reagierte
sie auf sein Hochzeitsfoto mit Vicki. Ihr Busen hob und senkte sich
unter einem tiefen Atemzug, als sie es betrachtete.
»Wow!« Sie
wischte sich mit einem behandschuhten Finger eine Träne aus
dem Auge. »Sie war wirklich wunderschön. So …
elegant. Sie müssen sie sehr geliebt haben. Und sehen Sie nur,
die Jungs!« Paula ging weiter zu dem Foto mit Erich und
Stefan. »Wie sehr sie Ihnen ähnlich
sehen!«
Kraus kam sich selbst
wie ein Schuljunge vor, der die Schule schwänzte. Er konnte
einfach nicht glauben, dass er dieses Mädchen wirklich um zehn
Uhr morgens mit nach Hause genommen hatte. An einem Arbeitstag. Er
hatte eine solche unerlaubte Erregung nicht mehr empfunden, seit er
sich vor der Schlacht von Passendale in ein französisches
Bordell geschlichen hatte. Dass Paula hier war, dazu noch in eine
anständige, junge Frau verwandelt … es war, als
wäre ein Wunschtraum wahr geworden. Er hatte so lange um Vicki
getrauert, dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie stark seine
Leidenschaft für das Leben geblieben war. Nicht für die
bloße Existenz, sondern für das Leben selbst:
begeisternd, befriedigend, und vielversprechend. Er wollte nicht
mehr allein sein, nur für die Arbeit leben. Er wollte wirklich
leben. Lieben und geliebt werden. Und jeden Tag mit Paula
schlafen!
Er nahm sie in die
Arme und küsste sie, wie er einst Vicki geküsst hatte,
mit Herz und Seele. Sie zitterte und seufzte, während sie sich
ihm zärtlich hingab. Sie sanken auf die Couch und atmeten
schneller. Er zog ihr den Pullover hoch und tastete nach ihren
Brüsten. Aber sie wollte die Handschuhe nicht
ausziehen.
»Kraus, gib mir
eine Minute.« Sie entwand sich ihm. »Schlag das Bett
auf, Süßer. Und leg Musik auf.« Sie schnappte sich
die Handtasche und verschwand im Badezimmer.
Kraus bereitete das
Bett vor wie befohlen. Er war so hart wie eine Kanone. Und blieb
auch so, endlose Minuten lang. Als sie schließlich wieder
auftauchte, war sie vollkommen
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