Schlafwandler
Krawatte
wehte hinter ihm her. Als er sich Kraus näherte, bemerkte
dieser die Blitze von Hysterie in seinen Augen. Die Seele dieses
Mannes, dachte Kraus, ist genauso verdreht wie sein
Hakenkreuz.
»Wenn die Partei
auseinanderbricht«, Hitler fuhr herum und schrie Göring
und Goebbels an, die rennen mussten, um mit ihm Schritt zu halten,
»dann beende ich die ganze Sache in einer Sekunde!« Er
zielte mit einem Finger auf seinen Kopf. »Sie werden sehen.
Aber vorher«, er warf Strasser einen finsteren Blick zu,
»zerquetsche ich den da wie eine Kakerlake!«
So polternd, wie sie
aufgetreten waren, verschwanden die Naziführer durch die
Drehtür.
Dem kleinen Drama
folgte augenblicklich eine Überraschung, als Kraus den
Apollo-Saal betrat, den kleinsten der vielen Speisesäle des
Kaiserhofs. Ihm war, als wäre er mitten in eine römische
Orgie hineingeraten.
Oder vielmehr in eine
griechische.
Unter einer
maßstabsgetreuen Replik des Brunnens von Apoll, vor einem
lodernden Kamin zechten etwa dreißig junge, stämmige,
blonde Arier, etliche mit bloßem Oberkörper, an einer
langen Banketttafel, die mit Kiefernzweigen und roten, brennenden
Kerzen geschmückt war. Jeder hatte seinen kräftigen Arm
um die Schultern seines Kameraden zur Rechten geschlungen, und die
andere Hand umklammerte einen riesigen Bierkrug aus Steingut,
während sie schunkelten und von einem Akkordeon begleitet
sangen:
Bier her! Bier
her!
Oder ich fall
um!
Kraus hatte noch nie
eine solche Ansammlung von Muskelmännern gesehen. Es war, als
hätte man eine ganze Herde Zuchthengste an einen Tisch
getrieben: riesige, breite Oberkörper, muskulöse,
steinharte Oberarme, so dick wie Baumstämme. Diesen hirnlosen
Kreaturen fehlte eigentlich nur noch der Ring durch die Nase. Aber
etliche von ihnen, bemerkte Kraus, hockten gemütlich auf dem
Schoß eines Nachbarn oder fuhren mit den Fingern durch die
blonden Haare des Hengstes neben ihnen.
Bier her! Bier
her!
Oder ich fall
um!
Im Mittelpunkt des
Gelages saß, wie auf einem Thron, die kurze, plumpe Gestalt
von Ernst Röhm, dem absoluten Herrscher der SA. Er sah aus wie
der Metzger von nebenan, dachte Kraus. Das kurzgeschorene Haar war
messerscharf in der Mitte gescheitelt, und in seinem breiten
Gesicht saß eine platte Schweinsnase. Seine Beziehung zu den
Nazis reichte zurück in eine Zeit, in der er mächtiger
gewesen war als Hitler selbst und angeblich der einzige
Parteiführer, der den Führer mit dem vertraulichen Du
ansprach. Hitler war auf ihn angewiesen wie auf einen dritten Arm,
denn Röhm war ein absolutes Organisationsgenie. Aber vor einem
Jahr hatte eine kommunistische Zeitung, deren Herausgeber seitdem
spurlos verschollen war, einige höchst freizügige Briefe
aus Röhms privater Korrespondenz veröffentlicht,
woraufhin die Homosexualität des SA-Führers die
Schlagzeilen beherrschte. Er hatte zwar nie auch nur den Versuch
unternommen, sie zu verheimlichen, aber nachdem sie publik geworden
war, litt der SA-Kommandeur plötzlich unter einem auffallenden
Mangel an Freunden unter den hohen Tieren der Nazis, jedenfalls,
wenn man Fritz’ Quellen glauben konnte. Und jetzt war
Röhm auf den Führer ebenso angewiesen wie dieser auf
ihn.
Der Mann mochte seine
Armeelaufbahn aufgegeben haben, um ein politischer Soldat zu
werden, aber er war dennoch Soldat geblieben bis auf die Knochen.
In dem Moment, als er das Eiserne Kreuz Erster Klasse auf
Kraus’ Brust sah, erhob er sich. »Herr
Kriminalinspektor. Sie waren abkömmlich, exzellent. Ich hoffe,
Sie sind hungrig?«
»Nein. Ich kann
leider nur kurz bleiben.«
Kraus’
Aufmerksamkeit war einen Moment abgelenkt. Es war die vielleicht
ironischste Überraschung des Abends. Direkt neben dem
SA-Führer, der mit seiner groben Hand das blonde Haar
streichelte, saß der Anführer der »Roten
Apachen«, Kai. Allerdings ohne Make-up und goldenen Ohrring.
Stattdessen hatte er sich in einen ziemlich finster blickenden Nazi
verwandelt, und seine normalerweise so fröhlich funkelnden
blauen Augen sahen jetzt scharf und distanziert aus, wie die eines
Wolfs. Das war also seine neue Stellung. War es wirklich so
überraschend? Er war einfach von der Welt der Kinderbanden in
die Liga der Großen aufgestiegen. Dennoch empfand Kraus einen
Stich, als wäre er betrogen worden. Kai mochte ihn. Sie hatten
sich mehr als einmal gegenseitig geholfen. In diesem Moment
richtete sich der scharfe Blick des Achtzehnjährigen auf ihn
und schien ihm mit einem heimlichen Aufglühen zu
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