Schlafwandler
ein.
Ihr erster Halt war
kurz vor der Alexandrinenstraße 108. La Petite Maison. Der Eingang lag in
einer Gasse, die vor Müll überquoll. Hinter einer
schwarzen Tür gewährte ein Vorhang aus Silberlamé
Zugang zu einem kleinen Raum, der mit roten Samtsofas und falschen
Kronleuchtern möbliert war wie ein französisches Bordell.
Etwa ein Dutzend übertrieben gekleidete Mädchen, alle
Mitte bis Ende zwanzig, saßen auf den Sofas, während
Trauben von älteren Männern ihnen den Hof machten, die
sich praktisch um sie prügelten.
»Sind alle diese
Damen Prostituierte?«, flüsterte Gunther, der offenbar
der Meinung war, dass er sich in der großen, weiten Welt
allmählich zurechtfand.
»Die eigentliche
Frage, Gunther, lautet, ob diese Damen wirklich Damen
sind.«
Der junge Mann riss
die Augen auf.
Kraus ging zu dem
stämmigen Barkeeper und fragte ihn, ob er Kai gesehen
habe.
Der Mann
schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie ihn
sehen, dann sagen Sie ihm, dass Kraus nach ihm
sucht.«
Draußen in der
Gasse packte Gunther Kraus am Arm. »Sie haben mich verkohlt,
stimmt’s? Kommen Sie schon, Inspektor, sagen Sie mir die
Wahrheit. Himmel! Einige von ihnen waren echt
süß.«
Der nächste Halt
war das Adonis , das einige Blocks weiter in der
Alexandrinenstraße lag, in Nummer 128. Es war ein kleiner
Klub für die ansässigen Schlangenjungen, und er war
wirklich schmuddelig. Rauch hing in der Luft, die Tische waren
kahl. An den Wänden hingen billige Landschaftsgemälde.
Als sie eintraten, folgten ihnen gierige Blicke.
Schlangenjungen waren
männliche Prostituierte, heterosexuelle Jünglinge der
ärmeren Klassen, die ihren Namen von den Schlangen hatten, die
sie vor den Bars oder in den kleinen Gassen bildeten. Seit der
Depression schienen sie überall herumzulungern und waren fast
alle gleich gekleidet, in der Uniform, die ihre Kunden am liebsten
mochten – als Matrosen. Sie waren ein recht wilder Haufen und
bereiteten der Polizei eine Menge Kopfzerbrechen. Die eleganteren
Hotels mussten oft ganze Abteilungen rufen, um sie zu
verscheuchen.
Kraus sah, wie etliche
von ihnen herumgingen und versuchten, Päckchen mit Kokain oder
schwarzem Opium an die »Tantchen« zu verkaufen, die
ihre Klientel bildeten. Einer der älteren Herren spielte
berauscht auf einem Piano, während ein grauhaariger Freund
verträumt mit einem Seemann tanzte. Dann fing der Pianospieler
an zu singen.
Irgendwo scheint
die Sonne,
deshalb, mein
Liebchen, weine nicht!
Gunther schien keinen
einzigen Schritt mehr machen zu können, Kraus musste ihn durch
die Menschenmenge schieben.
»Nein, Herr
Inspektor. Tut mir leid«, sagte ein dürrer Kellner.
»Ich habe Kai schon eine Weile nicht mehr
gesehen.«
»Sagen Sie ihm,
dass Wilhelm Kraus nach ihm gefragt hat.«
»Ja, Chef. Herr
Inspektor.«
Am Nollendorfplatz
betraten sie einen riesigen Tanzsaal, der von bunten Lichtern
erleuchtet war, die von einem Dutzend sich drehender, verspiegelter
Bälle reflektiert wurden. Das Berlin der Weimarer Republik war
berühmt für seine Liberalität, und aus der ganzen
Welt trafen sich hier Männer, die Männer liebten. Und
nirgendwo war die Freiheit, die sie suchten, großzügiger
als im Nollendorfer Palast. War Gunther zuvor bereits schockiert
gewesen, so wirkte er jetzt wie vom Donner
gerührt.
Der Saal war riesig,
und die Tanzfläche war vollkommen von Teilnehmern eines
Neujahrs-Tanztees gefüllt. Hunderte von Männern wiegten
sich Wange an Wange zu der Musik eines Orchesters, das »Love
Is The Sweetest Thing« spielte. Es gab harte Typen,
mädchenhafte Typen, ältere Paare in Smoking und Zylinder,
Jungs mit Fliegen und breitem Revers.
»Mischen Sie
sich unter die Leute!«, befahl Kraus.
»Aber, Chef
…«
»Was?«
»Ich muss doch
nicht tanzen, oder?«
»Nur, wenn Sie
scharf auf die Jungs sind, Gunther.«
Eine halbe Stunde
später hatten sie jedoch immer noch keine Spur von Kai
gefunden.
Kraus und Gunther
gingen wieder hinaus. Es wurde bereits dunkel, und die Mondsichel
stand schon am Himmel. Die Musik aus dem Saal drang zu ihnen
heraus.
»Wie
wär’s, Chef?« Gunther breitete die Arme
aus.
»Keine Witze.
Wir müssen diesen Jungen finden.«
In der Schmuseecke lehnten blonde
Männer in den Dreißigern in Uniformen von Schuljungen
einschließlich kleiner, spitzer Hüte an der Bar und
rauchten. In der Zauberflöte gab es sogar eine
Show: Liziana, die mysteriöse Wunder-Frau – oder -Mann
–, trat mit den Zusammenbrüdern auf, einer Sing-
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