Schlafwandler
wandernden Kinder
der deutschen Wälder.
BUCH
DREI
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Die
Meistersinger
NEUNZEHN
Kraus’ Blickfeld
erstrahlte von Licht.
Ein langes, knochiges
Gesicht sah auf ihn herunter.
»Chef …
Ich bin’s, Gunther.«
Warum liege ich zu
Hause im Bett?, fragte sich Kraus. Und Gunther sitzt in meinem
Stuhl?
Er hob hastig den Kopf
vom Kissen, als er sich erinnerte. »Wie spät ist
es?«
»Ganz ruhig,
Chef. Essen Sie etwas heiße Brühe.« In Gunthers
Augen schimmerte ärztliche Sorge. »Es ist noch nicht mal
vierzehn Uhr. Ein glückliches 1933 wünsche ich
Ihnen.«
Kraus aß die
Brühe. Ihm war klar, dass er allen Grund hatte, dankbar zu
sein.
Nur gab es leider
nicht genug Gründe.
Die Wandervögel,
etwa dreißig Studenten, waren keine Sekunde zu früh
aufgetaucht. Diese studentischen Wandergruppen waren jetzt seit
Jahren geradezu leidenschaftlich beliebt, sie verkörperten das
Ideal der romantischen deutschen Jugend. Kameradschaft. Natur.
Wanderlust. Dennoch waren sie zunehmend politisiert worden und
hatten sich immer mehr mit der Hitler-Jugend vermischt. Er konnte
seinem Glücksstern danken, dass diejenigen, die ihn gefunden
hatten, noch von der altmodischen Art gewesen waren, die mit ihren
Rucksäcken und Wanderstäben fröhlich singend
dahinzogen auf der ersten Etappe ihrer zwanzig Kilometer langen
Neujahrswanderung. In wenigen Minuten hatten sie aus ihren
Wanderstöcken und Zweigen eine Trage für Fritz gebaut.
Dann brachte eine Abteilung von ihnen ihn zu dem Bahnhof im Wald
zurück, wo sie ihre Wanderung begonnen hatten.
Eine Stunde
später wurde Fritz im Medizinischen Zentrum Brandenburg in
Potsdam operiert. Soweit Kraus wusste, lag er noch dort und erholte
sich. Sein Zustand war stabil. Ein Feldwebel von der Garnison in
Potsdam fuhr ihn zurück in die Stadt. Es war noch nicht ganz
neun Uhr vormittags. Gunther wartete vor Kraus’ Wohnung, halb
verrückt vor Angst.
»Als der Kontakt
abgebrochen war, wussten wir nicht, was wir tun sollten, Chef
…«
Und jetzt war es
Kraus, der nicht wusste, was er tun sollte.
Paula. Sie war in der
Gewalt dieser gottverdammten Schweine.
»Gunther.«
Er ließ die Schüssel mit der Suppe sinken und versuchte,
seine Beine aus dem Bett zu schwingen. Dabei spürte er, wie
schwach er war. Unterkühlung, hatten die Ärzte
diagnostiziert. Er sollte mindestens einen oder zwei Tage im Bett
bleiben.
»Helfen Sie mir
beim Anziehen. Ich kaufe mir diesen Hundesohn
Gustave.«
»Aber Chef
…«
»Schon
gut.«
Draußen war es
kalt und windig, und Kraus’ Kopf pochte vor Schmerz. Als sie
seinen silberfarbenen BMW erreichten, gab er Gunther die
Autoschlüssel.
Das Gesicht des jungen
Mannes lief rot an. »Sie machen Scherze,
oder?«
»Hauptsache, Sie
bringen uns nicht um. Ich hatte heute schon genug
Ärger.«
»Jawohl,
Chef!«
Die fürstliche
Wohnung des Großen Gustave lag auf der
Kronprinzenstraße, direkt neben dem Tiergarten. Gunther
hämmerte an die Tür. Ein kleines, französisches
Dienstmädchen mit großen, weit aufgerissenen Augen
öffnete.
»Oui,
Messieurs?«
Bedauerlicherweise war
der König der Mystiker nicht zu Hause. Er war bereits vor
mehreren Stunden weggegangen. Wohin? Das wusste sie nicht. Aber sie
würde ihm schrecklich gerne ausrichten, dass die Messieurs ihm einem Besuch
abgestattet hatten, wenn sie ihre …
Schon gut.
Am Ende der
Straße winkte die geflügelte Statue der
Siegesgöttin mit ihrem goldenen Lorbeerkranz von ihrer
Säule auf dem Platz der Republik herab.
Es kam ihm vor, als
würde Paula ihm zurufen: »Willi, wie konntest du
mir das antun? Wo ich dir doch vertraut habe?«
Er musste Gustave
finden.
Kai. Neulich,
im Café
Rippa ,
hatte der SA-Abtrünnige versprochen, dass seine »Roten
Apachen« den Künstler im Auge behalten
würden.
»Gunther,
schnell. Zum Alex.«
Das Problem war nur,
den wilden Jungen zu finden.
Der BMW umkreiste den
riesigen Alexanderplatz Straße um Straße, vorbei an
Kaufhäusern und Cafés, Bierhallen und der
S-Bahn-Station. Hunderte von Menschen schlenderten über die
Bürgersteige. Es wimmelte von Straßenverkäufern,
Falschspielern, Bettlern und Prostituierten. Aber kein Kai. Wo
würde ein junger Mann wie er an einem Tag wie heute
herumhängen?
Es gab einige
Möglichkeiten.
»Gunther, mach
dich auf etwas gefasst. Ich denke, auf dich wartet ein Neujahrstag,
der dir die Augen öffnen wird.«
»Je weiter sie
offen sind, desto besser.« Gunther lachte und legte den
dritten Gang
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