Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
Straße,
keinen Pfad. Nur Kiefern und Koniferen. Kilometerweit. Kaum ein
Lichtstrahl konnte den Baldachin durchdringen. Da ihr Kompass
ebenfalls zerstört war, hatten sie sich hoffnungslos verirrt.
Wie Hänsel und Gretel im Wald.
    »Furcht macht
den Wolf größer, als er ist!« Kraus erinnerte sich
an die Worte seiner Mutter. Aber im Moment wäre er nicht
einmal gern einem Wolfsjungen begegnet.
    Fritz stolperte und
fiel hin. Ein Ast auf dem Boden zerbarst unter seinem
Gewicht.
    Kraus gab es einen
Stich ins Herz. Er bückte sich und hob den Oberkörper
seines alten Freundes an. Sein Verband war
blutdurchtränkt.
    »Lass mich
zurück, Willi«, keuchte Fritz. Er war totenblass.
»Geh weiter und rette dich selbst.«
    »Das habe ich in
Frankreich nicht gemacht, und du glaubst tatsächlich, dass ich
dich dreißig Kilometer von Berlin entfernt liegenlasse? Es
muss doch noch jemand in dieser gottverdammten Wildnis
herumlaufen!«
    »Hilfe!«,
schrie Kraus so laut er konnte.
    Ihm antwortete nur das
Echo seiner eigenen, verängstigten Stimme.
    Er stand auf und sah
sich im Wald um. Voller Wut begriff er, dass ihm nichts anderes
übrigblieb, als Fritz zu tragen.
    Er zerrte ihn weiter,
trug ihn huckepack, spürte das Gewicht in seinen Knien, seinen
Knöcheln. Er ignorierte es und ging los. Aber in welche
Richtung? Es konnte gut sein, dass sie seit Stunden im Kreis
liefen. Aber welche andere Wahl hatte er, als sich für eine
Richtung zu entscheiden und sich daran zu halten? Also tat er es.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis Fritz unerträglich schwer
wurde. Kraus’ Rücken verkrampfte sich, seine Schenkel
zitterten. Jeder Schritt wurde schwieriger, schlimmer als alles,
was er ertragen konnte.     
    Not bricht
Eisen . Noch
ein Spruch seiner Mutter, der ihm durchs Hirn pulsierte.
    »Früher
einmal war dieser Wald ein Mischwald aus Nadel- und
Laubbäumen«, murmelte Fritz ihm ins Ohr.
»Während des Krieges sind die Berliner hierhergepilgert
und haben Feuerholz geholt. Sie haben alle Birken und Pappeln
gefällt, sämtliche Erlen und …«
    Ein Gefühl von
Ekel durchströmte Kraus’ Eingeweide, als sein Fuß
tief einsank. Er sah sich um und versuchte, das wachsende
Gefühl von Panik in seinem Inneren zu beherrschen. Er
stolperte in einen Morast, konnte nicht sehen, wo er begann. Der
Boden hatte sich in dickes, schwarzes Torfmoor verwandelt, das wie
zäher Leim an seinen Füßen klebte und sich
weigerte, ihn loszulassen. Entsetzen durchrieselte ihn. Er hatte
die schlimmsten Angriffe überlebt, Artilleriebeschuss und
Giftgasattacken. Warum hatte er jetzt das Gefühl, dass dies
hier das Ende war?
    »Lass mich
zurück, Willi«, wiederholte Fritz.
    Not bricht Eisen.
Not bricht Eisen.
    Der Boden schien
absichtlich all seine Bemühungen vereiteln zu wollen, sich zu
befreien, als umklammerte er ihn wie Satan persönlich. Er
stellte sich vor, wie Jahrhunderte später ihre Gebeine
ausgegraben … und in einem Museum neben einem wolligen
Mammut ausgestellt wurden. Er fand es ziemlich ironisch, dass heute
der Neujahrstag war. Ein glückliches 1933. Er dachte an Paula.
War sie aus ihrer Trance erwacht? Fühlte sie sich genauso
hilflos wie er jetzt? Wie konnte er sich mit dem Sterben abfinden?
Er musste sie retten. Sie und alle diese Menschen in Sachsenhausen.
Sein Herz hämmerte schneller, als ein Maschinengewehr feuerte.
Er fluchte und wütete, spie Feuer. Machte den nächsten
Schritt. Dann einen halben. Noch einen.
    Not bricht Eisen.
Not bricht Eisen.
    Welche andere Wahl
hatte er, als das zu glauben.
    Nur um

    Sein Fuß
löste sich aus dem Morast und landete beim nächsten
Schritt auf einem festen Untergrund. Er verlor das Gleichgewicht.
Fritz und er landeten kopfüber auf einem Teppich aus
Kiefernnadeln. Es tat weh, aber der Boden unter ihnen war …
fest. Terra
firma! Sie
waren dem Morast entkommen! Ein berauschender Gedanke! Sie waren
beide gerettet!
    Fritz plapperte immer
noch von den Bäumen, die gefällt worden waren. »Die
Pappeln, die Eschen, die Erlen …«
    Kraus drückte
sein Gesicht in die trockene Erde, keuchte qualvoll, und ihm war so
schwindlig, dass er sich tatsächlich einbildete, am Horizont
Gesänge zu hören. Falleri, Fallera! Was für ein Witz!
Die Engel kamen … sie kamen, um ihn zu holen, und
schmetterten dabei ein Wanderlied! Falleri! Er phantasierte es
sich nicht zusammen! Sie kamen. Und sie sangen tatsächlich ein
Wanderlied. Fallera-ha-ha-ha-ha!
    Nur waren es keine
Engel. Es waren die Wandervögel.
    Die

Weitere Kostenlose Bücher