Schlag weiter, Herz
das sein?« oder »Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?« waren die Fragen, an die Mert gewöhnt war.
»Bin ich denn schon gut genug?«, fragte Mert zurück.
»Du kannst hauen wie ein Pferd, das reicht.«
Auch in der zweiten Runde blieb Felix außerhalb der Gefahrenzone. Mert traf ihn selten. Aber wenn er traf, versetzten seine Schläge Felix um einige Zentimeter. Felix spürte, dass er eine schlechte Figur abgab, obwohl er weiter Punkte sammelte. Also verließ er seine Kampflinie und ging häufiger auf Mert zu. Mert nutzte diese Momente instinktiv. Er verkürzte die Distanz oder ging einen Zentimeter zurück, schlug aus der optimalen Entfernung ein paar Haken zum Körper und anschließend zum Kopf. Felix zog seine Deckung schnell genug nach oben, um keine Wirkungstreffer zu nehmen. Doch obwohl er gedeckt war, spürte er die Gewalt von Merts Schlägen. Felix begann das Tempo anzuziehen, Serien von sieben, acht, neun Schlägen zu schlagen, von denen Mert viele nahm. Mert konnte die Frequenz nicht mitgehen, zog sich zurück und suchte seine Chance in überfallartigen Attacken.
Felix war zu klug, um sich überrumpeln zu lassen, doch das Publikum in der Polizeisporthalle schlug sich auf Merts Seite.
»Führhand, Führhand, hamse dir die auf den Rücken gebunden?«, schrie einer mit heiserer Kehle. »Hau dem Ossi vors Brett«, befahl ein anderer. »Langweilig«, rief der Nächste, »da schlägt ja sogar der Maske härter.« Die konzentrierte Stille zu Beginn des Kampfes wich Anfeuerungen für Mert. Das Niveau der Auseinandersetzung sank, aber die Stimmung kochte hoch.
Mert brannte aus, wurde langsamer, aber kurz vor dem Ende der zweiten Runde, als er zurückstolperte und Felix ihm nachsetzte, nahm Mert einen harten Treffer. Doch statt zu Boden zu gehen, lächelte er. Dann schlug er einen rechten Haken aus einem kuriosen Winkel, der Felix so hart traf, dass dieser seinen linken Fuß falsch absetzte und über seine Beine stolperte. Felix ging zu Boden, sprang aber gleich wieder auf. Der Ringrichter wertete keinen Niederschlag, weil es aussah, als sei Felix ausgerutscht. Ein Chor des Missfallens erfüllte die Halle. Der Gong zum Ende der Runde ertönte, sodass Mert seinen nächsten Schlag zurückziehen musste. Felix und Mert wankten in ihre Ecke, als hätten sie alle Lebenskraft verbraucht. Nadja, die wie immer in der ersten Reihe saß, ertappte sich dabei, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht zu ihrem Bruder hielt.
Mit dem Boxen hatte Felix seinen Glauben gefunden, seine Kirche, seine Liturgie und Litanei. Ob das alles einem höheren Zweck diente, war für ihn nicht entscheidend. Boxen wurde ein Werkzeug, um sein Leben zu ordnen, in gut oder böse zu unterscheiden, in richtig oder falsch. Er ging zur Schule, er ging trainieren, er fuhr zu Wettkämpfen, er gewann fast immer und hielt sich zu Recht für etwas Besseres. Sein Ruhm wirkte in Görlitz wie ein Schutzschild für seine vier Jahre jüngere Schwester.
Während Felix seine Freizeit beim Training, in Umkleidekabinen, Zügen und Bussen verbrachte, blieb Nadja gern alleine und steckte ihre Nase in Bücher. Felix genoss auf der Kinder- und Jugendsportschule viele Freiheiten, als Prämie für die Titel, die er von Turnieren mitbrachte. Nadja war in der erweiterten Oberschule besser als ihr Bruder und bei ihren Klassenkameraden als Streberin verhasst.
Zudem hatte sie das Pech, dass sie sehr schön wurde. Nicht in dem Sinne, wie Models schön zu sein haben, sondern auf eine ungewöhnliche, irritierende Weise. Sie war zu dünn, aß nie etwas, das ihr nicht schmeckte, was ihre Mutter in den Wahnsinn trieb. Mehr als einmal setzte es Ohrfeigen vom Vater, wenn Nadja ihr Essen nicht anrührte, woraufhin sie noch weniger aß. Sie hatte schon als kleines Mädchen begriffen, dass Totalverweigerung der beste Weg war, sich den Vater vom Hals zu halten. Ihre Haare schnitt sie sich mit fünfzehn Jahren zu einer Kurzhaarfrisur, weil sie keine Lust hatte, die Dekorationsspiele ihrer Schulfreundinnen mitzumachen. Doch gerade durch die Ablehnung der gängigen Schönheitsideale, die nach der Wende in der ostdeutschen Provinz Einzug hielten, nährte Nadja in den Augen ihrer Betrachter die Illusion, in ihr eine Schönheit entdeckt zu haben, die anderen verborgen blieb.
Wenn sie im Schulhof oder im Café saß, dachte Nadja meistens an eine Figur aus einem ihrer Bücher, was ihrem Blick etwas Abwesendes gab. Manchmal sah sie einfach nur skeptisch aus, weil ihr etwas an ihren
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