Schlag weiter, Herz
Füße schmerzten. Er gewöhnte sich an, jeden Morgen hundert Liegestütze und hundert Bauchaufzüge zu machen. Als Gersch ihn anwies, Yoga zu machen, damit er beweglicher wurde, besorgte Mert sich ein Yoga-Buch. Als Gersch im Trainingslager erklärte, was Boxer essen sollten und in welchem Abstand, stellte Mert seine Kost auf Funktionsnahrung um. Er aß nicht mehr, worauf er Lust hatte, sondern was er brauchte, um optimal zu verbrennen und sein Gewicht zu halten. Hätte Gersch ihm erklärt, er müsse Vogelblut trinken, um seine Schlaggeschwindigkeit zu steigern, hätte Mert bei seinen Läufen durch den Park Tauben gerissen.
Das Boxen war für Mert das entscheidende Zahnrad, das bald alles antrieb. Mit einem zunächst kaum wahrnehmbaren Ruck kamen die Dinge in Bewegung und gewannen stetig an Dynamik. Das Räderwerk griff ineinander und kontrollierte, als es einmal in Gang gesetzt war, Merts Zeit, seine Gedanken, den Tagesablauf und schließlich seine ganze Existenz. Die Mechanik erfasste jeden Bereich. Mert trank keinen Alkohol, er ging früh zu Bett und stand früh auf. Er zog nicht mehr um die Häuser, suchte keine Ablenkung von diesem Nichts, das sein Leben zuvor ausgefüllt hatte. Mit dem Boxen tat sich ein Weg auf, dessen Ende er nicht absehen konnte, der ihm aber so unvermeidbar erschien, dass er ihn weiterging. Sein Leben veränderte sich, ohne dass Mert es bewusst wahrgenommen hätte. Doch als er nach Monaten zurückblickte, stellte er fest, dass vom alten Mert nicht viel übrig war, außer Erinnerungen an ein schwarzes Tier, das irgendwo tief drin an den Stäben seines Gefängnisses rüttelte und ausbrechen wollte, um das eine entscheidende Zahnrad zu zerschlagen.
Nadja und Felix hatten sich in Hamburg zunächst eine gemeinsame Wohnung genommen. Auf der Suche nach einem Verein wurde Felix regelrecht hofiert. Er entschied sich schließlich für den HBC 21, weil der dortige Trainer, Thorsten Gersch, gleichzeitig Verbandstrainer war. Gersch hatte Felix erklärt, dass er ihm nicht mehr viel beibringen könne, versicherte ihm aber, alles dafür zu tun, damit Felix sein Leistungsniveau halten konnte. Etwas Handgeld für Turniersiege würde es obendrein geben.
Als Felix zum ersten Mal beim Verbandstraining auftauchte, war ihm sein Ruf vorausgeeilt. Gersch hatte seine fähigsten Halbschwergewichtler zum Sparring verpflichtet. Sie drängten sich um den Ring und fieberten ihrer Abreibung entgegen.
Die restlichen Boxer beobachteten Felix, während sie an den Sandsäcken arbeiteten. Mert war nicht gefragt worden, ob er sich eine Runde gegen den Star aus dem Osten zutraute. Er hatte zwar nach einem Jahr Verbandstraining einige Gegner schlagen können, die ihn zuvor ausgepunktet hatten, aber er galt weiterhin als Kuriosum. Als einer, der begabt war, aber zu spät mit dem Boxen begonnen hatte.
Bei jedem Boxer zeigt sich der Charakter im Kampfstil. Wenn die Boxer ihr Handwerk vor der Pubertät lernen, entfaltet sich die Persönlichkeit nach den Fähigkeiten. Wer erst nach der Pubertät zum Boxen kommt, lernt es als Ausdruck eines fertigen Charakters und bleibt in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt. Der bereits ausgebildete Charakter behindert den spätberufenen Boxer, im Gegensatz zu demjenigen, der schon alles kann, bevor er sich fragt, was er damit eigentlich anfangen will. So wie man als Erwachsener eine Fremdsprache bis in die Feinheiten lernen kann, aber doch immer eine Unsicherheit bleibt, weil man im ersten Moment denkt, etwas falsch verstanden zu haben.
Mert sah, wie Felix in jeder Runde einen frischen Sparringspartner bekam und sie nacheinander ausboxte. Manchmal nutzte Felix nur seine Führhand, um nicht unterfordert zu sein. Mert hatte genug gelernt, um zu erkennen, wie weit er von dieser Art zu boxen entfernt war.
Dass Mert sechzehn seiner sechsundzwanzig Kämpfe gewonnen hatte, lag daran, dass er sich, wenn er unter Druck geriet, nicht zurückzog, sondern in die Offensive ging. »War keine gute Technik«, hatte Gersch nach einem Kampf gesagt, »aber das, was du falsch machst, machst du ganz gut.« Wenn Mert gewann, dann weil er seine Gegner überrannte. Wenn sie sich nicht überrennen ließen, ging ihm nach der Hälfte des Kampfes die Puste aus, und er verlor nach Punkten. Doch nachdem er Felix zum ersten Mal boxen sah, hatte Mert endlich ein Ziel, das er am Ende des Weges ausmachen konnte.
Felix erholte sich rechtzeitig von Merts Haken. Und als habe er diesen Schlag gebraucht, um zur
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