Schlag weiter, Herz
fühlte Mert sich nicht als Türke, und seine Mutter sprach deutsch mit ihm. Er fühlte sich aber auch nicht als Deutscher. Er war Mert und passte nirgendwo rein. Ein wilder Junge mit zu viel Energie und zu wenig Ideen, was er damit anfangen könnte.
Bis ein alter Freund seines Vaters aus gemeinsamen Zeiten bei der Bundeswehr eines Tages vorschlug, Mert zum Boxen zu schicken. »Weißt du noch, beim Barras? Da haben doch selbst die Ordentlichsten angefangen, Bier zu saufen und zu rauchen. Genauso ist es beim Boxen, nur umgekehrt.«
So landete Mert beim BC Einigkeit, wo er Karl-Heinz »Kalle« Trabert und Asterix kennenlernte.
Das Erste, was Mert auffiel, als er Kalle Trabert in der Trainerkabine vorgestellt wurde, war ein Spruch über dem Eingang: »Qualität kommt von Qual.«
Kalle erhob sich, drückte Mert die Hand und schnaubte. Seine knapp zwei Meter Körpergröße, seine 150 Kilo Gewicht, seine roten Haare und sein dichter Schnauzbart hatten ihm die Bezeichnung »Walross« eingebracht. Freilich traute sich nie einer der Boxer, ihn so zu rufen. Er wurde von allen nur Kalle genannt, von Neulingen auch Herr Kalle.
Kalle, ehemaliger deutscher Meister im Superschwergewicht, war kein besonders guter Trainer. Er wusste alles vom Boxen, aber das wenigste davon konnte er erklären. Meistens brüllte er seine Truppe nur zusammen, trieb sie an, mehr zu arbeiten und härter zu hauen. »Und erzählt bloß niemandem, dass ihr bei mir trainiert, das ist ja peinlich, ich hab einen Ruf zu verlieren.«
Nach nur acht Wochen Training schickte er Mert zum ersten Mal zum Sparring in den Ring. Dort wartete ein älterer, kompakter, sehniger Boxer mit langen blonden Haaren auf Mert. Alle im Verein nannten ihn »Asterix«, wegen seiner Frisur und weil er Aufwärtshaken schlug, bei denen man den Eindruck hatte, größere Gegner würden durch die Luft fliegen, wie die Römer in den Comics.
Asterix verdrosch Mert innerhalb von Sekunden. Kalle brüllte in den Ring, aber Mert verstand kein Wort. Ein Pochen in seinen Ohren übertönte jedes Außengeräusch, seine Nase blutete, sein linkes Auge schwoll zu. Während Kalle immer noch schimpfte, blickte Asterix unverwandt zu Mert und sagte: »Wer die Hitze nicht abkann, muss raus aus der Küche.«
Die Aussicht, beim nächsten Sparring wieder gedemütigt zu werden, trieb Mert an. Er trainierte so verbissen, als hinge sein Leben davon ab. Er hielt sich nicht mehr an Kalles Ansagen zu Schlagfolgen, stattdessen beobachtete er Asterix beim Schattenboxen, bei der Arbeit am Sandsack und im Ring, versuchte sich Kombinationen abzugucken und nachzumachen. Wenn die anderen unter die Dusche durften, trainierte Mert noch ein paar Runden am Sandsack, bis Kalle ihn rausschmiss.
Als er zum dritten Mal mit Asterix in den Ring musste, suchte Mert sein Heil im Angriff. Er schlug und kassierte selbst einen Treffer, sobald er nur mit der Faust rauszuckte. »Du musst schneller zurückziehen, als du schlägst«, nuschelte Asterix durch seinen Mundschutz. Mert versuchte es und wurde wieder hart von einem Konter getroffen. »Noch schneller!« Das nächste Mal zog Mert seine Faust blitzschnell zurück, und Asterix’ Konter blieb in der Deckung stecken. »Genau so«, lobte Asterix, dann verdrosch er Mert wieder.
In der Umkleide sprach er ihn immerhin zum ersten Mal an.
»Wie heißt du noch mal?«, fragte Asterix, während er sich die Haare trocken rieb.
»Mert.«
»Stefan.« Er hielt ihm seine Faust hin, Mert klopfte sie ab.
»Kannst nicht boxen, Mert, aber du hast Herz.«
Ab da genoss Mert das Privileg, von Asterix gegrüßt zu werden, und kletterte damit in der Vereinshierarchie nach oben. Stefan, wie Mert ihn nun nannte, nahm sich in den folgenden Wochen immer wieder Zeit, dem Jüngeren etwas Neues beizubringen. Schlagkombinationen, Schrittfolgen, Offensivtechniken, Defensivtechniken. Zu jeder Aktion bedachte er Mert mit einem Spruch, den dieser als Leitsatz verinnerlichte.
»Lass den anderen nicht tun, was er tun will.« – »Immer ackern, dann kann der andere sich nicht erholen.« – »Wenn du nicht verlierst, kann der andere nicht gewinnen.«
Mert wiederholte diese Sätze wie ein Mantra, er träumte von Schlagkombinationen, von Haken, Bewegungsabläufen. Morgens wachte er verschwitzt auf, wenn er im Schlaf trainiert hatte.
Sechs Monate später fragte Kalle Mert, ob er seinen ersten Kampf machen wolle. Mert war noch nie nach etwas gefragt worden, was mit seiner guten Leistung zusammenhing. »Musste
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