Schlag weiter, Herz
Mutter über das Wetter, über Hamburg, über ihre Ausbildung und Felix’ Studium. Sie hörte sich die Klagen der Mutter an, wie trüb die Aussichten in Görlitz waren, nachdem die Boraus sich blühende Landschaften erhofft hatten.
Die Mutter nahm Nadja das Versprechen ab, mit zu Felix’ Kämpfen zu fahren, um sie gleich informieren zu können, falls etwas passieren sollte.
Nadja erkannte als Erste, dass Felix sich mit Mert übernehmen würde. Sie hatte ihren Bruder schon oft genug auf Boxveranstaltungen begleitet. Felix boxte besser, jeder in der Halle sah das. Aber er fing an, sich auf Merts Stil einzulassen. Zweimal war er schon flachfüßig auf der Stelle stehen geblieben, um in einen Schlagabtausch zu gehen, in dem Mert im Vorteil war. Es schien, als würde Felix Mert nicht nur besiegen, sondern ihn vernichtend schlagen, ihn »kleinmachen« wollen, wie es bei den Boraus zu Hause hieß. Felix hatte seinen Puls in der Rundenpause kaum unter Kontrolle bringen können, so sehr hatte er sich bei seinen schnellen Schlagserien verausgabt. Er hatte Mert eingedeckt und gute Treffer gelandet. Doch Mert weigerte sich anzuerkennen, dass er geschlagen war. Felix konnte nicht fassen, dass Mert noch stand. Selbst Gersch konnte als erfahrener Trainer nicht einordnen, was sich im Ring abspielte. Felix lag nach Punkten uneinholbar vorne, aber er begab sich ohne Not in Gefahr.
»Ruhig«, sagte Gersch in der Pause zur dritten und letzten Runde, »tief einatmen.« Er wedelte Felix Luft zu. »Du musst nichts mehr riskieren. Box das Ding sicher nach Hause, versuch nicht, irgendwas zu beweisen.« Es war das erste Mal, dass Gersch etwas sagte, was man als Kritik an Felix auslegen konnte.
Kalle sagte in Merts Ecke nur sehr wenig, und selbst das war kaum verständlich. Mit den Worten »Hau ihn weg« schickte er Mert in die letzte Runde.
Mert kam aus seiner Ecke wie eine Dampflok. Er schnaufte schon, bevor sie in der Ringmitte aufeinandertrafen. Doch so wie er Felix anblickte, war klar, dass Mert sich nicht kleinmachen ließ. Dass er im Gegenteil wuchs, umso heftiger Felix auf ihn einschlug. Dass er sich aus der Verzweiflung seines Gegners speiste. Dass seine Gefahr nicht in der eigenen Stärke lag, sondern in der Fähigkeit zu ertragen.
Auch wenn er schon deutliche Spuren des Kampfes im Gesicht trug, würde Mert nicht zu stoppen sein. Seine Haare ragten büschelweise aus dem Kopfschutz, er hatte tiefe Augenringe. Obwohl Mert finster und geschafft aussah, bewegte er sich, als habe er Spaß an der Sache. Er erinnerte Felix an jene Jugendlichen, die ihm und seiner Schwester in Görlitz das Leben schwer gemacht hatten. Also versuchte Felix, ihn auszuknocken, mit allen Mitteln. Er schlug eine Serie, zwei Führhände, einen rechten Seitwärtshaken, gefolgt von einem linken Aufwärtshaken und einer harten rechten Geraden. Ab dem dritten trafen alle Schläge, Merts Kopf wurde von der Quer- und Hochbeschleunigung herumgerissen. Aber er fiel nicht. Stattdessen drückte er Felix in die Seile und schlug einen weit ausgeholten rechten Haken, der über die gleichzeitig geschlagene Führhand von Felix traf und diesen bis ins Mark erschütterte.
Seinen ersten Kampf nach nur sechs Monaten Training gewann Mert durch K. o. in der zweiten Runde. Fünf der sieben Kämpfe, die er in der B-Kategorie austrug, konnte er auf diese Weise für sich entscheiden. Doch als er in die A-Kategorie aufstieg, in der die Boxer zusammengefasst werden, die mehr als sieben Kämpfe absolviert haben, verlor er immer häufiger. Viele Kämpfer waren zu erfahren, um in seinen rechten Haken zu rennen. Sie hielten drei mal drei Minuten Abstand und punkteten ihn aus. Kalle schickte Mert zum Verbandstraining. Stefan, selbst ehemaliger Verbandsboxer, begleitete ihn, um ein gutes Wort bei Verbandstrainer Thorsten Gersch für ihn einzulegen. Gersch war früher zweifacher deutscher Meister gewesen und als »bester Techniker des Turniers« ausgezeichnet worden. Er hatte seine aktive Karriere beendet und zügig alle Lizenzen als Trainer gemacht.
Er hatte nicht viel übrig für rohe Kämpfer wie Mert, die nur durch Versuch und Schmerz lernten, nicht über Erklärungen. Andererseits hatte Gersch keine große Auswahl und Respekt vor Merts Einsatzwillen. Mert trainierte zusätzlich zu den drei Einheiten beim BC Einigkeit zweimal die Woche beim Verband. Er fuhr dreißig Minuten mit der Bahn hin und dreißig Minuten zurück.
Außerdem ging Mert dreimal pro Woche laufen, bis ihm die
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