Schlag weiter, Herz
Gedanken missfiel. Viele Jungs verstanden dies als Aufforderung, sie aufzuheitern.
Die meisten versuchten sie dann auch zu erobern, was selten gut ging. Nadja war klüger als die anderen Jugendlichen in der Plattenbausiedlung, klüger als ihre Klassenkameraden und bestimmt klüger als die Vereinskollegen von Felix, die immer wieder Anläufe unternahmen, ihr zu gefallen. Als das Gerücht aufkam, Nadja habe eine Affäre mit dem jungen Referendar aus dem Westen, der in der Parallelklasse den Leistungskurs Deutsch unterrichtete, wurde ihre Verschlossenheit als Überheblichkeit interpretiert.
Eines Tages war Felix zu Ohren gekommen, dass einer der Jungs am Bahnhofsplatz Nadja als »dumme Fotze« beschimpft hatte. Sie hatte dessen Anmache nicht erwidert und war auch auf die provozierende Bemerkung »Hältst dich wohl für was Besseres« nicht eingegangen. Felix hatte die gleichaltrigen Jungs schon vorher nicht gemocht. Meistens rotteten sie sich mittags zusammen, nachdem sie bei Aldi eine Lage Raven-Pils gestohlen hatten, besoffen sich und gefielen sich in einem Wettbewerb, wer lauter rülpsen und ordinärer schimpfen konnte. Mit einigen von ihnen war Felix zur Schule gegangen, bis er auf die Sportschule wechselte. Andere waren ehemalige Vereinskollegen von Lokomotive Görlitz, die Alkohol und Zigaretten für sich entdeckt hatten.
Kurz nachdem seine Schwester beschimpft worden war, erschien Felix in Begleitung von drei Vereinskollegen auf dem Bahnhofsplatz. Hinter ihm stand Sebastian Prokop, ein 2,02 Meter großer Superschwergewichtler, von dem das Gerücht ging, er habe im Leistungszentrum so hart gegen das Messkissen geschlagen, dass die Anzeige ausgefallen war.
Felix fragte den Rädelsführer, Mike Hunold, wie er seine Schwester genannt habe. Hunold, der Frauen aus Gewohnheit als Schlampen oder Fotzen bezeichnete, wurde bewusst, wie unverzeihlich sich dieser Ausdruck anhörte, wenn man ihn nicht im gewohnten Umfeld aussprach. Er druckste herum. Felix fragte insgesamt viermal nach, bis Hunolds Sorge, das Gesicht vor seinen Freunden zu verlieren, die Angst vor den Konsequenzen überwog. Hunold wiederholte den Ausdruck, und praktisch zeitgleich spürte er einen stechenden Schmerz unterhalb des Solarplexus, der ihm die Luft nahm. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser, als Folge des Schlages, den Felix ihm versetzt hatte. Hilflos auf dem Rücken liegend, übergab sich Hunold auf das Kopfsteinpflaster. Seine Freunde trauten sich erst, ihm auf die Beine zu helfen, als Felix, Prokop und ihre Kollegen den Platz verlassen hatten.
Vier Tage später kam Felix spätabends mit dem Zug vom Leistungstraining in Berlin zurück. Als er den Bahnhofsplatz überquerte, wurde er von fünf jungen Männern gestellt, die sich um Mike Hunold aufbauten. »Nun ist Gericht, kleiner Borau.« Einer der Jungs hatte ein Loch in seine kurzen Haare rasiert. Er war nach einer Prügelei am Kopf genäht worden und sah aus wie ein räudiger Hund. Alle wirkten sie versehrt. Jung, aber schon am Ende.
»Wie geht es deiner schönen Schwester?«, leitete Hunold das Unvermeidliche ein.
Hunold wusste, dass Felix schnell zuschlagen konnte, also plante er, ihm auf die Kniescheibe zu treten, ihn kampfunfähig zu machen. Womit Hunold nicht rechnete, war die Tatsache, dass Felix auch mit einer Sporttasche über der Schulter bei jeder Spartakiade den Laufwettbewerb gewonnen hätte. Felix drehte sich um, rannte weg, schlug einen weiten Haken, um seine Verfolger abzuhängen, und sprintete nach Hause. Er atmete gleichmäßig und tief, schon nach einem Kilometer war er uneinholbar enteilt. Nach knapp zwei Kilometern gaben die Verfolger auf, der Alkohol und die Zigaretten forderten ihren Tribut.
Zwei Monate danach wurde Felix zum zweiten Mal gesamtdeutscher Amateurmeister im Halbschwergewicht. Aber nach dem Zwischenfall am Bahnhof war klar, dass es nun unter den verwahrlosten Jugendlichen in Görlitz als größter Sieg angesehen wurde, ihn bei nächster Gelegenheit fertigzumachen. Ab diesem Zeitpunkt lief für Felix die Uhr in Görlitz ab, und damit auch für seine Schwester. Nach Nadjas Abiturprüfung ein halbes Jahr später zogen sie und Felix nach Hamburg. Ihr Vater sprach wegen dieser Fahnenflucht zwei Jahre kein Wort mehr mit seinen Kindern, obwohl er es gewesen war, der sie auf diese Idee gebracht hatte.
Wenn Nadja zu Hause anrief, um zu erzählen, wie es ihr und Felix ging, übergab Heinrich Borau den Hörer wortlos an seine Frau. Nadja sprach mit ihrer
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