Schlag weiter, Herz
Vernunft zu kommen, riskierte er danach nichts mehr, bis die dritte und letzte Runde vorüber war.
Er schlug nur noch wenig und wich aus. Mert war platt, sein Unterkiefer hing herunter, Spucke lief ihm vom Kinn. Bei seinen letzten verzweifelten Angriffen sprang er auf Felix zu, der sich aber zurückzog, um Mert ins Leere schlagen zu lassen. Mert wurde von seinem eigenen rechten Haken um die eigene Achse gerissen. Er kassierte eine Ermahnung des Ringrichters, sich nicht abzudrehen, dann läutete der Gong. Felix siegte überlegen mit 52 : 23 Punkten. Mert verließ den Ring mit einem Lächeln. Felix sah aus, als sei er knapp mit dem Leben davongekommen.
9
Mert blickt aufs Meer. Das macht er häufig und ausführlich. Er sucht sich eine Beschäftigung, wickelt seine Bandagen auf, macht sich einen Kaffee, nimmt seinen kleinen schwarzen Ball und knetet darauf herum. Aber eigentlich blickt er einfach raus und sieht zu, wie das Wasser reinrollt, sich wieder zurückzieht, wieder reinrollt. Oft ist der Kaffee nur noch lauwarm, wenn er wieder daran nippt.
Wenn Mert vor die Tür geht, sieht er zum Meer, wenn er die Straße runterspaziert. Wenn er sein Motorrad anwirft, blickt er kurz hin, und wenn er abends vom Training zurückkommt. Es ist einfach immer da. Fast alle Häuser auf Phuket richten sich zum Meer aus. Schon einen Straßenzug weiter landeinwärts werden die Mieten billiger, auch das Essen in den Garküchen, sogar das Obst an den Ständen. Die Zimmer in den Hotels, die keinen direkten Zugang zum Strand haben, kosten die Hälfte, da die Gäste ein paar Schritte gehen müssen. Aber sie kommen jeden Tag, legen sich in den Schatten oder mieten sich einen Sonnenschirm für fünfzig Baht. Am Strand sammeln sich die fliegenden Händler und die Masseurinnen mit ihren Tragekörbchen mit Öl und Feilen. Faltige Männer lassen sich von jungen Thailänderinnen eincremen. Kleine Krebse buddeln sich Löcher, tauchen auf und graben sich wieder ein. Muscheln werden angespült, die Hotelgäste sammeln sie ein. Kinder bauen Sandburgen, Väter helfen ihnen dabei. Mütter stürzen herbei, um den Kleinen eine Mütze aufzusetzen. Boote werden abends auf den Sand gezogen und morgens wieder ins Wasser geschleppt. Es wird gegessen, geschlafen, gespielt, gelesen. Einmal im Monat wird eine Party am Strand gefeiert. An dieser schmalen, unscharfen Grenze vom Land zum Meer verdichtet sich das Leben. Wie an einem Boxring.
Mert hat einen eigenen Liegestuhl, vorne am Wasser. Der gehört zum Apartment, ist sozusagen in der Miete inbegriffen. Aber Mert nutzt ihn selten. Er liegt nicht gerne in der Sonne, er blickt nur gerne aufs Meer. Das Meer macht ihn friedlich, fast glücklich, er fühlt sich verbunden. Es ist wie Meditation, auf das Wasser zu schauen, die Reflexionen zu beobachten, die Augen zusammenzukneifen, wenn ein Lichtstrahl ihn blendet.
Mert war nur zweimal am Meer gewesen, bevor er nach Phuket kam. Einmal in Italien, einmal an der Nordsee. Mit Nadja.
An die Nordsee waren sie im Oktober gefahren, nach St. Peter-Ording. Nadja kannte bis dahin nur die Ostsee, und Mert hatte es in seinem ganzen Leben nie von Hamburg bis an die Küste geschafft.
»Jetzt weiß ich auch, warum«, sagte Mert, als er versuchte, die letzten beiden Häkchen des Reißverschlusses seiner Jacke zuzuziehen. Der Wind war schneidend, die feuchte Kälte drang bis auf die Knochen. Trotzdem gingen sie am Meer spazieren. »Deswegen sind wir doch hergekommen«, sagte Nadja.
Sie gingen einen langen Steg entlang, die Gischt stob bis zur Hüfte hoch, ihre Hosenbeine wurden nass. Aber Mert war es egal, er wäre Nadja ins Eis und in die Hölle gefolgt. Wenn sie auf einen Steg ins Meer gehen wollte, ging er mit. Er zog nicht mal seine Schultern hoch. Es wurde ja nicht wärmer mit hochgezogenen Schultern.
»Es wäre schön, am Meer zu leben, oder?«, sagte Nadja halb schreiend, weil der Wind dazwischenpfiff.
»Hier?«, fragte Mert ungläubig.
»Nein, dafür ist es doch viel zu kalt. Du frierst doch schon, wenn ich zu Hause das Fenster kippe. Aber das Meer ist fast überall. Es verbindet alle Kontinente.«
»Von mir aus gerne ans Meer.«
»Ans Meer und in die Sonne«, sagte Nadja. Sie umarmte ihn und schob ihre Hände unter seine Jacke, woraufhin ihm die letzte verbliebene Wärme aus dem Körper wich.
Das Meer vor Merts Apartment ist das Gegenteil von der Nordsee. Das warme, friedliche Gegenstück derselben Sache. Vielleicht sitzt Nadja am anderen Ende und denkt an ihn.
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