Schlag weiter, Herz
Kinnspitze einschlug. Felix konnte die Perfektion des Schlages im eigenen Körper spüren. Der Bewegungsablauf gelang optimal. Er hatte sein Gewicht aus dem Fußballen über die Hüftdrehung bis in den angewinkelten Arm beschleunigt und genau im richtigen Moment über den zweiten Knöchel der rechten Faust alle Energie an Merts Kinn entladen. Felix bremste seine folgende linke Gerade in der Annahme, Mert würde fallen. Doch Mert ruckte seinen Kopf nach links, wie um zuzugeben, dass dieser Schlag ihm wehgetan hatte, dann lächelte er und folgte Felix weiter.
Gegen Ende der zweiten Runde konnte Mert Felix in die Ecke drängen und so mit Schlägen eindecken, dass dieser mit seinem Knie auf den Boden knickte, um anzuzeigen, dass er angezählt werden wollte. Danach lief Felix weg, schlug nur noch einzelne lange Führhände und ein paar Aufwärtshaken, um Mert auf Distanz zu halten. Einer dieser Aufwärtshaken brachte Mert ins Wanken, aber Felix machte kaum noch Punkte, während Mert gegen die ablaufende Zeit anschlug. Es reichte trotzdem nicht.
Gersch versuchte Mert mit dem Hinweis zu trösten, dass Felix bei der norddeutschen Meisterschaft ohnehin die besseren Chancen haben würde. »Da kommen die Jungs aus dem Leistungszentrum Schwerin, die sind dir einfach über.« Es dauerte lange, bis Mert danach wieder eine Anweisung von Gersch entgegennahm.
Zu Beginn der nächsten Saison stieg Mert wieder ins Schwergewicht auf, boxte Freundschaftstreffen, Ländervergleiche, Pokale und Galas. Selten waren mehr als hundert Zuschauer anwesend. Beim Chemie-Pokal wurde er in der ersten Runde von einem knapp zwei Meter großen Jungen aus Leipzig ausgepunktet, der erst seinen zehnten Kampf machte.
»Was möchtest du später eigentlich mal werden?«, fragte Nadja eines Nachts, während sie versuchte, Merts Locken zu sortieren. Sie hatte sich auf seinen Brustkorb geschoben, der im Liegen so hoch stand, dass sie sich zusätzlich mit dem Ellbogen abstützen musste.
»Wann später?«
»In einem Jahr, in zehn Jahren?«
»Kein Plan.«
»Aber du kannst doch nicht ewig boxen.«
Mert blickte sie verständnislos an.
»Wie alt möchtest du eigentlich werden?«, fragte Nadja.
»So hundert Jahre.«
»O Gott, was willst du denn so lange machen?«
»Boxen, andere Länder sehen. Ich will noch sehen, wie Autos fliegen.«
»Aber du wirst alt sein.«
»Na und?«
»Erscheint dir das nicht anstrengend, immer so weiterzumachen, sich jeden Tag abzukämpfen?«
»Ich kann nichts anderes. Das ist das Einzige, in dem ich gut bin.«
»Wie lange denn? Du musst doch irgendwann einen richtigen Beruf haben. Du kannst doch nicht ewig boxen und an der Tür stehen. Macht dir das keine Angst? Die Zukunft?«
»Nein.«
»Du hast keine Angst?«
»Nein.«
Nadja setzte sich auf und zog die Bettdecke über ihre Brüste, woraufhin Mert fast nackt dalag.
»Vor nichts?«
»Nein.«
»Aber vor Kämpfen musst du doch Angst haben.«
»Das ist keine Angst.«
»Was dann?«
»Da bin ich aufgeregt, das ist gut, das hilft mir beim Training, das feuert mich an. Das lässt mich weiterlaufen, das macht mich wach und schnell. Vor was hast du denn Angst?«
»Wer hat gesagt, dass ich Angst habe?«
»Du.«
»Ich habe nur gefragt, ob du Angst hast.«
»Du hast keine Angst?«
»Natürlich habe ich Angst.«
»Vor was?«
»Vor allem. Und vor nichts.«
»Aber man hat doch nur Angst vor schlimmen Sachen, oder?«
»Ich habe Angst, dass meiner Mutter was passiert, oder Felix. Oder dir, wenn du zur Tür rausgehst. Manchmal habe ich Angst davor, Angst zu haben. Und manchmal habe ich einfach nur Angst, und die sucht sich dann einen Grund.«
Das Gespräch war in einen Bereich geglitten, in dem Mert die Gedanken ausgingen. Was er empfand, war zu undeutlich, um es in einen Satz zu packen. Er fühlte sich wie in der Schule, wenn er aufgerufen wurde, um eine Mathematikaufgabe vor der Klasse zu lösen, und irgendwas hinschrieb, weil die Situation es verlangte, ohne die leiseste Ahnung, was er da an die Tafel kritzelte. Er zog Nadja mit der Decke zu sich.
»Aber dagegen musst du doch was tun, gegen die Angst.«
»Die wird erst verschwinden, wenn ich nicht mehr da bin«, sagte sie.
»Dann hast du aber noch ein paar schreckliche Jahre vor dir.«
»Das kann ich mir immer noch überlegen.«
»Was überlegen?«
»Ob ich die Uhr vollmache oder mich früher zum Sterben hinlege.«
»Auch keine Lösung.«
»So sicher bin ich mir da nicht.«
»Sich umbringen? Nein, dann verpasst
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