Schlag weiter, Herz
schlägt sogar Frauen!«
Heinrich Borau zahlte je zwei Mark Eintritt für sich und Felix, dann musste er die Frau im Kassenhäuschen davon überzeugen, Nadja durchzulassen, die noch nicht sechzehn war. Sie gingen durch die Schwingtür an der Außenwand der Bude und kamen in ein Zelt, das hinter der Kulisse aufgebaut war. Ein kleiner Boxring stand auf einem Podest. Die Luft staute sich an der Zeltinnenwand, Schimmel fraß sich am Stoff hoch, der Boden war weich. Der alte Borau beobachtete aus der letzten Reihe, was sich zutrug. Mit Boxen, wie er es kannte, hatte das nichts zu tun. Das Publikum war betrunken, es wurde geraucht, der Ring hatte auf keinen Fall Wettkampfabmessungen. Die Zuschauer brüllten, um einen Mutigen anzufeuern, aber sie jubelten auch, wenn ihm eine Sekunde später das Blut aus der Nase lief. Heinrich Borau studierte, wie die Rummelboxer ihre Zufallsgegner schonten, bis diese versuchten, einen Treffer zu landen. Dafür wurden sie mit harten Schlagfolgen bestraft, geübt in Hunderten Rummelboxkämpfen. Kurz darauf mussten johlende Männer ihrem gedemütigten Freund aus dem Ring helfen.
Heinrich Borau stand hinter seinen Kindern. Felix hatte einen Arm um seine Schwester gelegt, damit sie nicht vor Aufregung umkippte. Nadja wollte dringend raus aus dem Zelt, der testosteronsatte Mief drehte ihr den Magen um. Doch ihr Vater hielt sie zurück, seine Hand drückte wie eine Schraubzwinge auf ihre Schulter. Ein kräftiger Junge, etwa vier Jahre älter als Felix, traute sich zu Zlatan in den Ring. Der Junge imitierte Boxbewegungen, die er aus dem Fernsehen kannte. Er boxte in Zlatans Richtung, und der hielt sein Kinn hin, als er bemerkte, dass der Junge nicht die Nerven hatte, wirklich zuzuschlagen. Kaum hatte der Junge sich überwunden und einen Schlag gelandet, zog Zlatan mit seiner Rechten durch, sodass der Junge zuckte, als habe man ihm Strom durch die Wirbelsäule gejagt, und danach in sich zusammenfiel.
»Ja, so ist er, unser Zlatan, ein tiefgläubiger Christ, der weiß: Geben ist seliger denn Nehmen!«, versuchte der Ansager die Atmosphäre aufzulockern. »Na, das geht ja heute im Akkord …«, brüllte er weiter, denn noch bevor er jemanden dazu animieren musste, in den Ring zu steigen, hatte Heinrich Borau seinen Arm gehoben. Er wies Felix an: »Egal was passiert, du bleibst mit deiner Schwester genau hier.« Dann bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge bis zur Ringecke, wo er drei Stufen auf einmal nahm. Im Ring zog er sein Hemd aus und legte es über das oberste Seil. Er stellte seine Schuhe ordentlich außerhalb des Seilgevierts an den Rand und streifte die übelriechenden, dicken Handschuhe über. So stand der alte Borau mit einundvierzig Jahren ein letztes Mal im Ring, in Unterhemd, dünnen Socken und einer weiten Anzughose – mit herunterhängenden Armen und einem Schnauzbart, der ihm einen etwas traurigen Ausdruck verlieh.
»Heinrich kommt aus Görlitz, ein Bruder aus dem Osten, der sich ein bisschen was zu seinem Begrüßungsgeld da zuverdienen will!«, verkündete der Ansager. Der Gong ging fast im Gelächter unter.
Heinrich Borau brauchte etwa eine halbe Minute, bis die Bewegungsabläufe wieder saßen. Zlatan hatte schon oft erlebt, dass alte Boxer sich an ihm versuchten, sie waren gefährlicher als die betrunkenen Jugendlichen. Aber sein Gegenüber war augenscheinlich seit Jahren nicht mehr im Training, und selbst in dem stickigen Zelt konnte Zlatan den Nikotinschweiß seines Herausforderers riechen. Zlatan musste für Show sorgen, also versuchte er Borau unter Druck zu setzen, was nicht gelang. Borau zuckte immer wieder zurück, verlegte sein Gewicht auf den hinteren Fuß, um erneut nach vorne zu schnellen, mit einer Führhand, die Zlatan traf, noch bevor er seine Faust zur Deckung ans Kinn geführt hatte. Der Bewegungsablauf wiederholte sich ein paarmal, nach der fünften Wiederholung fing Borau an zu schnaufen, als sei eine Kette um seinen Brustkorb gespannt.
Zlatan bemerkte, dass sein Gegner von Schlag zu Schlag schwächer wurde, doch er wusste auch, dass er bei diesen Aktionen eine schlechte Figur machte. Das Publikum war bereits auf Boraus Seite. »Mach ihn fertig, alter Sack.« Entnervt schlug Zlatan eine Dreier-Kombination. Borau zog den Kopf hinter seiner Doppeldeckung zum Kinn runter und machte einen Seitschritt, eine Defensivtechnik, deren Nutzen sich Zlatan nie erschlossen hatte.
So bot sich dem alten Borau die Gelegenheit, die Qualität eines Systems unter
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