Schlag weiter, Herz
komplizierten Kicks mehr mit ihm. Mert tritt nicht gerne zum Kopf, das dauert ihm zu lange, weshalb Nok ihm bei Kicks die Pratze nicht höher als bis zur Hüfte hält. Am Sandsack hat Mert seine Arbeit umgestellt. Er tritt einmal lang zum Solarplexus, dann geht er an den Sack und schlägt Aufwärts- und Seitwärtshaken.
Nok wollte Mert auch den rituellen Tanz beibringen, den die Thai-Boxer vor ihrem Kampf im Ring aufführen. Aber Mert hatte sich überraschend ungeschickt angestellt und zudem das Gefühl, etwas zu simulieren, was ihm nicht zustand. Ich komme aus Hamburg, dachte er, was soll ich hier zu Flötenmusik tanzen? Wäre ja auch komisch, wenn ein Thai plötzlich in Seemannskluft in der Oberhafenkantine die Gäste mit »Moin Moin« begrüßt.
Nachdem Nok und Mert bei diesen Versuchen mehr lachen mussten, als die Abfolge zu üben, begruben sie das Vorhaben, aus Mert einen richtigen Thai-Boxer zu machen. Seitdem führt Mert vor seinen Kämpfen nur noch die Minimalbewegungen auf traditionelle Weise in alle vier Richtungen des Rings aus und überlässt seinem Gegner die Show.
Eine Trainingseinheit dauert knapp zwei Stunden. Mert springt Seil, macht sich locker und arbeitet mit Nok an den Pratzen. Nok sieht aus wie eine Figur aus einem Videospiel, wenn er seinen roten Brustschutz trägt, der die Kicks zum Bauch abfängt, und mit den großen blauen Polstern an den Händen, in die Mert schlägt und tritt.
Manchmal zieht Nok die Pratzen aus und macht ein oder zwei Runden Sparring mit Mert, weil es sonst niemanden im Gym gibt, der Mert fordern könnte. Nok ist fast so groß wie Mert, aber fünfzehn Kilo leichter, jünger und schneller mit den Beinen. Sein letzter Kampf liegt sechs Jahre zurück. Aber jedes Mal, wenn er mit Mert in den Ring steigt, geht Nok zur Sache, als sei er selbst nicht restlos von seinem Ruhestand überzeugt.
Mert und Nok mögen sich, auch wenn Nok oft den Kopf schüttelt oder aufjault, weil Mert einen Kick falsch ausführt. Oder wenn Mert sich lustig macht, weil Nok einen Schlag ohne Deckung nimmt. Mit dem Boxen haben die beiden Männer ein gemeinsames Thema und eine gemeinsame Sprache. Mittlerweile kennen sie sich gut.
Nach dem Training wartet Mert, bis er zu schwitzen aufhört. Dann zieht er sich um und setzt sich auf sein Motorrad. Er fährt an Patong vorbei, nimmt die Umgehungsstraße und biegt rechts in Richtung Phuket ab. Kurz vor dem Flughafen liegt Nai Yang, ein verschlafenes Nest, das aus einigen großen Hotelanlagen und einer Strandpromenade besteht. Ein Naturschutzgebiet trennt den Flughafen vom Ort. Die Hotels haben mindestens vier Sterne, abseits vom Straßenlärm liegen sie im Grünen. Hier steigen die Urlauber ab, die nach Phuket reisen, weil sie es schön finden. Kein Sex-Tourismus, keine Technomusik in den Bars, stattdessen Billard und Evergreens aus den vergangenen dreißig Jahren, ein endloser »Summer of ’69«.
Neben sieben Bars gibt es zehn Massagesalons und sechs Restaurants direkt am Strand, zwei davon machen sich die Mühe, Tischdecken aufzulegen.
Mert tuckert die Strandpromenade hoch und runter, sieht sich in Ruhe um. Er fährt so langsam, dass er genauso gut gehen könnte. Aber nach dem Training ist er zu träge, um die Maschine abzustellen.
Bei Nok trainieren seit Kurzem ein paar Thai-Boxer aus Nai Yang, weil ihr Gym zugemacht hat. Mert fragt sich, ob er Nok hintergehen würde, wenn er selbst ein Gym in Nai Yang eröffnet. Andererseits könnten sie sich dann auf einer anderen Ebene messen, ihre Schüler aufeinander losgehen lassen. Auch eine Form von Unterhaltung.
Mert mag diesen Ort. Grün, ruhig, fröhliche Menschen auf der Straße. Ein paar der Häuser an der Strandpromenade sind um riesige Bäume herum gebaut. Die Stämme bilden das Zentrum der Wohnung, stehen mitten in der Küche oder im Wohnzimmer. Die Baumkronen ragen aus dem Dach und werfen Schatten über die Straße bis an den Strand. Die Einwohner von Nai Yang glauben, dass Geister in den alten Bäumen leben. Auf dem Rest der Insel sind die Menschen weniger abergläubig. Mert könnte das Gym übernehmen und dazu in einem der Hotels als Fitnesstrainer arbeiten. Er spricht Deutsch, und sein Englisch wird besser. Er könnte eines der Häuser am Strand kaufen, mit einem Baum, der durchs Wohnzimmer wächst. Was ist schon dabei, älter zu werden, wenn man einen zweihundert Jahre alten Mitbewohner hat?
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Nadja und Mert nahmen sich Ausflüge vor, um gelegentlich aus ihrer Höhle rauszukommen, wie Nadja
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