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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Davic Pfeifer
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die Wohnung nannte. Sie gingen ins Kino, auf Konzerte. Nadja kannte Hamburg kaum, abgesehen von ihrem Weg zur Arbeit, also überraschte Mert sie mit einer Hafenrundfahrt und kümmerte sich um Karten für die Silvesterparty im Madhouse. Nadja schleppte Mert auf eine Lesung von John Irving, der aus »Zirkuskind« vorlas, auf Englisch, was Nadja besser verstand als Mert, aber auch nicht gut genug, um den Vortrag zu genießen. Mert schlief fast ein. Gelegentlich besuchten sie gemeinsam eine Ausstellung, wo sie inmitten von Menschen unter sich bleiben, ihre Meinung austauschen und gehen konnten, wann es ihnen gefiel. Mert war fasziniert von Cy Twombly, was Nadja bemerkenswert fand. Da Twombly aber nicht häufig in Hamburg zu sehen war und Nadja selbst keine Leidenschaft für Besuche im Museum oder für Lesungen entwickelte, schliefen ihre Kunstausflüge irgendwann wieder ein.
    An einem Wochenende im Herbst schlug Mert vor, auf den Hamburger Dom zu gehen. Nadja versteifte und lehnte kategorisch ab.
    »Da geh ich nicht hin.«
    »Warum nicht?«
    »Ich hab Angst vor dem Dom, seitdem ich ein Kind bin.«
    »Kinder lieben den Dom!«
    »Ich nicht.«
    Lange nach dem Ende seiner Karriere hatte der alte Borau noch einen letzten Kampf bestritten. Die Boraus waren nach Hamburg gereist, um die ehemalige Westverwandtschaft zu besuchen, die eigentlich keine richtige Verwandtschaft war. Die einzige Verbindung zwischen den Familien waren zwei längst verstorbene Großtanten gewesen.
    Mitte der Siebziger hatten die Jacobsens aus Protest gegen die Mauer damit begonnen, die Boraus zu unterstützen. Sie hatten jahrelang Pakete mit Kaffee, Nutella, Strumpfhosen, manchmal auch Orangen nach Görlitz geschickt. Für Nadja blieb der Geruch von alten, fast verdorbenen Orangen immer mit einer leichten Aufregung verbunden. Mit der Aussicht auf eine andere Welt.
    Als die Boraus die Jacobsens nach dem Fall der Mauer in Hamburg besuchten, stellten sie fest, dass Nutella im Westen nichts Besonderes war und dass man sich nicht drei Tage durchgehend bedanken konnte, nur weil es sonst keine Themen gab. Also schnappte sich Heinrich Borau am zweiten Abend seine Kinder und flüchtete mit ihnen zu einem Ausflug, während Mutter Borau mit den Jacobsens »Wetten, dass …?« sehen wollte.
    Vater Borau und seine Kinder fuhren mit dem Bus ins Zentrum und erkundeten, wie viel besser es den Menschen in diesem Teil Deutschlands ging. Die Mönckebergstraße war auf ganzer Länge taghell erleuchtet, die Schaufenster schienen vollgestopft mit allen nur erdenklichen Waren. Silbern funkelnde Stereoanlagen mit großen Drehreglern und schweren Schaltern, Geschirrsets, für die Heinrich Borau ein Monatsgehalt hätte zahlen müssen, schicke Kleider, Anzüge, Schmuck. Zwei Stationen hinter dem Hauptbahnhof stiegen sie aus, um die Auslagen zu bewundern. Sie spazierten durch die Innenstadt, über den Großneumarkt, bis sie am Heiligengeistfeld vor dem »Hamburger Dom« landeten.
    Der alte Borau wollte seinen Kindern etwas bieten, ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie genauso wertvoll waren wie die Menschen in diesem Teil Deutschlands. Er ließ Nadja bestimmen, was sie machen sollten, und begleitete sie und Felix in die Achterbahn, zu den Wurfbuden, zum Autoscooter. Als sie einmal herumgelaufen waren, fanden sie sich vor einer Rummelboxbude wieder. Die Front war mit laienhaften Porträts berühmter Boxer bemalt. Felix erkannte nur Muhammad Ali und Max Schmeling.
    Ein Koberer in einem weinroten, glänzenden Jackett versuchte, Vorbeischlendernde zu einem Besuch zu bewegen. »Kommen se her, kommen se rein, Eintritt zwei Mark.« Dann machte er eine ausholende Handbewegung, um seine Kämpfer vorzustellen. Er pries ihre Stärken an, als würde er die Strophen eines Liedes vorlesen:
    »Zlatan Voltic war serbischer Staatsmeister | Er hat schon über siebenhundert Kämpfe gekämpft und keinen verloren | Das Heulen der Witwen ist seine Einmarschmusik | Zlatan macht keine Liegestütze, er stemmt morgens unseren Zugwagen in die Höhe | Zlatan geht nicht joggen, er jagt die tollwütigen Füchse im Sachsenwald | Wer eine Runde mit Zlatan im Ring übersteht, bekommt hundert Mark von mir | Wer ihn besiegen kann, bekommt fünfhundert Mark!« Dabei hielt der Ansager fünf Hundertmarkscheine wie einen Fächer in die Luft. Heinrich Borau fragte den Ansager: »Bekommt man das Geld sofort?«
    »Natürlich, nur Bares ist Wahres. Aber seien Sie gewarnt, Zlatan hat keinen Respekt vor dem Alter – der

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