Schlagmann
schlug mit der flachen Hand aufs Wasser. Der große Meister einmal ganz klein. Zwischen zwei kurzen Atemstößen schrie ich: »Reicht das jetzt?« Er schien mich nicht zu hören. Ich setzte nach: »He! Sei wenigstens ein fairer Verlierer.« Er trieb in seinem Boot von mir weg.
Als ich mich erholt hatte und zum Anleger ruderte, war das Triumphgefühl weg. Hätte es bei diesem Spiel die Taste »Reset« gegeben, hätte ich sie gedrückt. Alles wieder auf die Ausgangsposition, Stoppuhren zurück auf null, Zwischenstände werdenneutralisiert, das ganze Programm beginnt von vorn. Athleten zurück ans Ufer. Boote zurück ins Bootshaus. Arnes Kapuze wieder auf den Kopf. Und weiter zurück, immer weiter zurück, im Schnelldurchlauf dreieinhalb Jahre zurück, wir fliegen auf das olympische Siegerpodest, die Nationalhymne wird rückwärts gespielt, wir haben die Goldmedaillen auf der Brust und – Stopp!
Vielleicht wäre die Handlung danach besser nicht weitergegangen. Arne wäre nicht am Abend besoffen mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Stattdessen ein Abspann mit den fünf Ringen im Bild und der Flamme, die damals nur für uns zu brennen schien, mit den acht Deutschen plus Steuermann im sinkenden Abendlicht. Sie sahen den Spielfilm: Die stärksten Männer der Welt. In der Hauptrolle: Arne Hansen. Regie: Ali, der Clown.
Ich erkannte, wie absurd meine Maßstäbe waren. Das Leben war komplizierter als eine Regatta. Da weint einer nicht, nur weil er ein Rennen verloren hat. Manchmal verliert er einen Menschen. Da vergeigt einer nicht einfach nur sein Finale. Manch einem geht sein Glück in Trümmer, obwohl er alles richtig gemacht hat. Damals bekam ich eine Ahnung davon, dass sportliche Leistung nicht mehr ist als eine Illusion. Nur ein lebloses Modell. Mein Beruf hat mich gelehrt, dass es ein Fehler ist, die Menschen nach Gewinnern und Verlierern einzuteilen. Obwohl: Wenn ich ehrlich bin, will ich heute eben der beste Arzt der Welt sein.
Als dieses Rennen zu Ende war, sah ich zu Arne hinüber, der mit hängendem Kopf aus seinem Boot stieg, und wünschte mir, ein anderer zu sein. Ich erkannte, was ich schon längst hätte erkennen müssen. Arne war krank. Ich glaube nicht, dass ich das, was später geschah, hätte verhindern können. Aber dass er mich zum Instrument seiner Krankheit machte, hätte ich verhindern müssen.
Er lief weg. Es war sicher besser so, ich glaube nicht, dass es für diesen Moment einen passenden Satz gegeben hätte. Kaum hatte er sein Boot an Land gebracht, ging er mit energischen Schritten durch den knirschenden Kies davon. Neben einem Bootsanhänger sah ich Anja stehen. Sie trug einen langen Regenmantel, glänzende Plastikstiefel und auf dem Kopf einen lackierten Hut mit Krempe, der selbst an ihr lächerlich wirkte. Sie machte einen halben Schritt in seine Richtung, blieb dann aber unschlüssig stehen. Sie schaute sich um, beachtete mich aber nicht. Ich war sicher, dass sie absichtlich so tat, als würde sie mich nicht sehen.
Ich brauchte dringend eine heiße Dusche, in den verschwitzten Sachen fing ich langsam an zu frieren, und winkte ihr nur kurz zu. Sie schien mich endlich wahrzunehmen, lächelte steif und sagte mit leiser Stimme:
»War’s das?«
Ich wusste nicht genau, was sie meinte. Ich verstand sie so, als wollte sie wissen, ob irgendetwas zu Ende war. Aber was? Die Schlagmann-Frage? Die Beziehung zwischen Arne und mir? Arnes Kampf?
Es fing an zu regnen, und ich bat sie, im Bootshaus auf mich zu warten.
Sie nickte.
Als ich mich 20 Minuten später, geduscht und in trockenen Klamotten, durch das schwere Metalltor schob, saß sie auf einem Stapel Plastikplanen und starrte auf ihre Knie. Vielleicht waren meine Schritte in den Turnschuhen so leise gewesen, dass sie mich nicht hatte kommen hören. Sie erschrak, als ich hallo sagte.
»Er war es, der dieses Rennen verlangt hat.«
Sie nestelte am Verschluss ihres Regenmantels.
»Ich glaube, in dieser Geschichte gibt es keine Schuldigen.«
»Na also«, sagte ich, trat noch einen Schritt näher und nahm sie in die Arme.
Sie war klein und zart. Wahrscheinlich ist einfach mein Beschützerinstinkt erwacht. Oder hat etwa der Jäger in mir die Chance gewittert, meinem Konkurrenten auch noch die Frau auszuspannen?
Ich habe mich das später gefragt, habe versucht, ehrlich zu mir selbst zu sein. Sie war sexy, spannend, eine Frau mit vielen Zweifeln und der unerschütterlichen Arroganz der verwöhnten Klasse – und auf einmal ganz nah. Ich hätte
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