Schlagmann
Beweglichkeit immer weiter ausgedehnt und die Schraube aus Schmerz und Hungerimmer fester gedreht. Wer den grausamen Dehnungsschmerz nicht aushalten kann, der entwickelt sich in seinem Sport nicht weiter. Und wer zunimmt, ist sowieso raus. Diese Mädchen müssen arbeiten wie Bergleute und bekommen danach zu essen wie tropische Vögel: eine Scheibe Kiwi und ein Stückchen Apfel. Sie müssen schlank und elfengleich sein, langbeinig und langhaarig wie der feuchte Traum eines Päderasten. Und weil nicht einmal diese armen, abgerichteten Geschöpfe immer die nötige Selbstdisziplin für dieses Martyrium aufbringen, werden sie von ihren herrischen Trainerinnen psychisch fertiggemacht. Und wenn man ihnen sagt, sie sollen aufhören, wollen sie nicht.
Das Syndrom ist der Leistungssport selbst. Und das nicht nur in Diktaturen, wo Kinder dem Staat gehören, der sie zu seinen Soldaten in Turnschuhen heranzieht, sondern in Demokratien wie der unseren, wo die Menschen sich nicht ohne Einverständnis schinden lassen müssen. Sie tun es freiwillig. Die Entbehrungen, Selbstkasteiungen, die Überlastung aller Systeme, das alltägliche Brennen für den Erfolg sind offenbar kein zu hoher Preis. Sie müssen es tun. Ihr innerer Zuchtmeister befiehlt es ihnen.
Ich habe mit Boxern gesprochen, die sich im Schnellverfahren in ihre Gewichtsklasse hineingedürstet haben. Sie saßen stundenlang hinter verschlossener Tür in einer überhitzten Sauna, um die letzten Gramm Flüssigkeit aus ihren Körpern zu quetschen und konnten an nichts anderes mehr denken als Wasser, riesige Flaschen voll mit perlendem Sprudel. Sie müssen Gewicht »abkochen«. Bei manchen reicht ein Dauerlauf in einem Saunaanzug. Andere setzen ihr Leben für ein paar Strichlein auf der Waage aufs Spiel. Vor mir liegt die Geschichte über einen Faustkämpfer, der schwer k.o. ging. Die Ärzte benötigten zweieinhalb Stunden, um ein Blutgerinnsel aus seinem Gehirn zu entfernen. Er war völlig ausgetrocknet.
Das Risiko gehört für sie alle dazu – wer dazu nicht bereit ist, hat bei den Top-Leuten nichts zu suchen.
Es mögen demütigende Momente sein, wenn sie im Halbdunkel Pillen schlucken, die kurzfristig schneller und langfristig krank machen. Wenn sie sich von einem Scharlatan Spritzen in den Hintern jagen lassen, von denen sie erst stärker und dann impotent werden. Wenn sie sich Blut abzapfen lassen, das ihnen ein paar Wochen später in schmuddligen Hotelzimmern per Transfusion wieder in die Adern gefüllt wird, damit sie schneller die Berge hinaufkommen. So wie alle ihre Konkurrenten, so dass sich am Schluss zwar alle körperlich ruiniert, aber nicht wirklich etwas gewonnen haben, weil die Abstände gleich geblieben sind. Nur ein paar von ihnen werden im nächsten Jahr fehlen, weil der Weltverband sie zu Geächteten gemacht hat. In gewissen Abständen wird eine Handvoll von ihnen des Dopings überführt und als Drachenfutter für die kritische Welt da draußen geopfert, damit das Feld ungestört weiterfahren kann. Gebrochen bleiben die Ausgestoßenen zurück, heulend vor Verlassenheit wie Seehundbabys, und sehnen sich nur nach einem: wieder in die Gesellschaft der Gleichgesinnten zurückkehren zu dürfen, sich wieder die Berge hinauf quälen und sich mit Gift vollstopfen zu dürfen in diesem kreischenden Zirkus der Masochisten. Und warum? Um den anderen zu beweisen, wie überlegen sie sind. Im Moment des Triumphs zeigen sie der Konkurrenz den gereckten Mittelfinger.
Ich gieße mir einen Whisky ein, trinke sofort einen scharfen Schluck, und dieser Schluck scheint auf einen Schlag meinen Kopf wieder klar zu machen. Ich denke: Es ist eine Sucht.
Ich trinke einen weiteren Schluck.
Sie sind abhängig vom Erfolg.
Doch etwas ist immer noch falsch. Hansen. Der Schlagmann mit hängendem Kopf auf dem Siegerpodest. Er kann sich nichtfreuen. Ich stelle mir seine blutende Stirn nach seinem Olympiasieg vor – und die zerschnittene Faust nach seinem Weltmeistertitel. Er hat das Ziel nie erreicht. Hansen war Leistungssportler. Aber er war nie wie sie.
Kein Bild, in das ich ihn einbauen will, passt.
ANJA,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Montag, 3. November 2008
Für ein paar Minuten gelang es mir noch, die Fassung zu bewahren. Ich hatte mich innerlich vorbereitet, und das half mir im ersten Moment auch.
Er trat mir entgegen wie ein stummer Zeuge meiner Alpträume. Eine surreale, absurde Erscheinung. Bei jedem Wiedersehen hatte ich gestaunt, wie groß er war. Aber
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