Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evi Simeoni
Vom Netzwerk:
schon für tot.«
    Nach ein paar Minuten erreichten wir das Sportgeschäft, das vor einer Woche eröffnet hatte. Im Schaufenster waren verschiedene Laufschuhe ausgestellt. Arne schaute sich die Modelle fachmännisch an. Er erklärte, dass er seit einiger Zeit kein Konditionstraining mehr machen könne. Vor ein paar Wochen sei ihm auf einem Waldweg schwarz vor Augen geworden, und es sei niemand da gewesen, um ihm zu helfen.
    »Mein Kreislauf ist abgesackt«, sagte er.
    Ich zerbrach mir den Kopf, was Arne mir damit sagen wollte. Sollte ich ihn zum nächsten Arzt schleppen? Oder wollte er gar nichts?
    Ich sagte: »Brauchst du meine Hilfe?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Eigentlich hatte ich ihm ins Gewissen reden wollen. Ich hatte mir Sätze zurechtgelegt wie: Du hast Verantwortung für die Menschen, die dich lieben. Oder: Lass uns nicht im Stich. Oder: Zeig den magersüchtigen Mädchen, wie man diese Krankheit überwindet. Doch ich brachte nur eine einzige armselige Frage heraus:
    »Arne, wieso isst du nicht?«
    Meine Stimme klang piepsig, ich hörte selbst die Hilflosigkeit darin.
    Plötzlich merkte ich, dass Arne sich aufgerichtet hatte und seine Augen nicht mehr auf die Erde blickten. Ich folgte seinem Blick und erkannte, dass er mich nicht einmal mehr wahrnahm. Auch die Auslagen im Schaufenster betrachtete er nicht mehr. Er war dabei, sich selbst zu mustern. Diese Geisterbahn-Figur mit struppigem Haar.
    Er hustete. Als er mit Husten fertig war, glaubte ich, ihn ein kleines bisschen lächeln zu sehen. Er musterte immer noch seine eigene Gestalt im Schaufenster, und er schien zufrieden zu sein mit dem, was er sah.

MÜLLER,
    eigene Aufzeichnungen, 2008
    Im Wartezimmer roch es muffig nach Medikamenten, und der
Kicker
, der auf einem niedrigen Tisch lag, war schon drei Wochen alt. An der Längswand hingen zwei vergilbte Plakate. Auf einem wurden einheimische Vögel, auf dem anderen Fische bestimmt und mit ihren lateinischen Namen benannt.
    Rotkehlchen – Erithacus rubecula.
    Elster – Pica pica.
    Kohlmeise – Parus major.
    Ich las die Namen immer wieder und ärgerte mich darüber, dass ich nicht mehr damit aufhören konnte. Ich war wohl selbst ein Fall für den Psychiater.
    Bachforelle – Salo trutta fario.
    Hecht – Esox lucius.
    Die dazugehörigen Bildchen waren sogar ziemlich detailliert. Ich studierte gerade das Gefieder der Bachstelze – Motacilla alba –, als die Tür aufgerissen wurde.
    Ich hätte mir beinahe die Augen gerieben, denn ich wähnte vor mir ganz kurz ein menschliches Exemplar von Cyprinus Carpio – dem Karpfen. Dann wurde mein Blick wieder klar. Dr. Anton Wissmann stand vor mir, ein Mann in meinem Alter im weißen Kittel. Ali hatte recht: Er sah aus wie ein Fisch. Wissmann grinste mich mit wulstigen Lippen an. Seine Stirn wirkte ein bisschen flach, und seine Augen standen leicht hervor – ihr etwas schielender Blick war aufmerksam auf mich gerichtet. Ich schüttelte den Kopf, um die Vorstellung vom Karpfen endgültig loszuwerden. Wissmann schwieg und sah mich trotz seines Augenfehlers ruhig an.
    Ich starrte zurück.
    Er streckte mir weder die Hand hin, noch begrüßte er mich sonst irgendwie, und ich glaubte zu erkennen, dass schon in diesen Sekunden etwas Wichtiges entschieden wurde. Derjenige, der zuerst anfing zu reden, machte sich automatisch zum schwächeren Teil dieser Beziehung. Er war das Objekt.
    Ich versuchte, seinem verdrehten und gleichzeitig direkten Blick weiter standzuhalten. Ein Profiboxer hat mir für solche Situationen einmal einen Trick verraten. Beim Blickduell empfiehlt es sich, dem Gegner nicht in die Augen, sondern auf seine Nasenspitze schauen. Das reduziert den Stress.
    Wissmann wartete. Nach ungefähr 30 Sekunden machte er mit seiner rechten Hand eine einladende Geste. Das hieß wohl, ich sollte ihm folgen. Ich stand auf und lief hinter seinem weißen Kittel her. Von irgendwoher zog es heftig.
    Als wir in sein Behandlungszimmer kamen, sah ich sofort den Grund. Der Raum war klein, hatte aber ein großes, kompliziertes Fenster mit vielen Unterteilungen. Einer der kleinen Fensterflügel stand offen, kalte Luft strömte herein.
    Wissmann deutete auf einen gepolsterten Stuhl vor seinem großen Schreibtisch aus dunklem Holz und räusperte sich. Ich setzte mich, er selbst nahm auf einem schweren Leder-Drehsessel auf der anderen Seite Platz.
    »Entschuldigen Sie die Kälte«, sagte er. »Ich muss eine ganze Menge destruktive Energie hinauslassen.«
    Ich schloss daraus – und

Weitere Kostenlose Bücher