Schlagmann
aus einem Haufen zerknüllter Papiertaschentücher in einem Messing-Papierkorb neben mir – dass er kurz zuvor mit einem schweren Fall gesprochen hatte.
Der Arzt folgte meinem Blick und sagte seufzend: »Suizidgefahr. Vor einer Woche ist er noch mit langen Messern durch das Haus seiner Eltern gelaufen.«
Seine tiefe Stimme bildete einen verwirrenden Widerspruch zu seinem fischigen Äußeren. Wissmann ist langjähriger Oberarzteiner psychiatrischen Klinik. Alles hier war schlicht, karg und wirkte abwaschbar. Er stand noch einmal auf und schloss das Fenster. Die komplizierten Holzrahmen hatten schon unzählige weiße Farbanstriche erhalten, das sah ich an der unebenen Oberfläche mit übertünchten Rissen und Fugen. Unter seinen Schuhen knirschte es, als er die zwei Schritte zu seinem Stuhl zurückkehrte. Er war auf ein paar trockene Blätter getreten, die wohl von seinen Grünpflanzen auf das Linoleum gefallen waren. Vor dem Fenster, auf einem breiten Tisch mit Metallbeinen und einer Holzplatte, standen mehr als ein Dutzend Blumenstöcke in unterschiedlichen, teilweise angeschlagenen Übertöpfen. Einige Blattränder waren bräunlich und rollten sich ein. Manche Zweige hatten überhaupt keine Blätter mehr. Nirgendwo zeigte sich eine Blüte oder auch nur frisches Grün.
»Wie wäre es mit gießen?«, fragte ich.
Wissmann schüttelte den Kopf.
»Sie bekommen genügend Wasser. Aber sie halten die Patienten nicht aus. Nach ein paar Wochen fangen sie üblicherweise an zu trauern.«
Ich unterdrückte ein Grinsen.
Er erklärte, dass er die Pflanzen für sein inneres Gleichgewicht brauche und dass die Kranken sie benutzten, um ihren Blick daran festzuhalten.
»Weil sie hier so schnell welken, übernehme ich alle ramponierten Stücke, die andere Leute für ihre Wohnung nicht mehr haben wollen.«
Er drehte kurz seinen Sessel und wandte sich einem besonders traurigen grünen Pinsel zu.
»Wenn diese Pflanzen sprechen könnten …«
Der Psychiater verschränkte seine Unterarme und legte sie auf die Schreibtischplatte. Wieder sah er mich mit seinen Karpfenaugen an – und diesmal traf er mich unvorbereitet. Ich wichhastig seinem Blick aus und empfand ein Gefühl der Niederlage. Wissmann hielt mir eine Zigarettenschachtel hin, ich nahm eine. Er riss ein Streichholz an, gab mir Feuer und legte das abgebrannte Hölzchen in einen grünen Emaille-Aschenbecher, dem man ansah, dass er intensiv gebraucht wurde.
»Fast jeder hier drin raucht. Wir überlegen sogar, ob wir den Patienten nicht Tagesrationen an Zigaretten ausgeben sollen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, ihnen das Nikotin zu lassen.«
Es klopfte an der Tür, und ohne dass Wissmann etwas gerufen hätte, stürmte eine junge, korpulente Ärztin in einem engen Kittel herein, deren ursprünglich hochgestecktes Haar teilweise aus den Nadeln gerutscht war.
»Frau Bergmann duscht schon wieder«, brachte sie atemlos hervor.
Wissmanns Karpfenmund verzog sich.
»Waschzwang«, sagte er in meine Richtung. Und dann zu der Ärztin: »Wie lange schon?«
»Die anderen Patienten sagen, zwei Stunden.«
»Am besten, Sie drehen den zentralen Wasserhahn ab.«
Die Ärztin eilte hinaus.
Wissmann strich mit der rechten Hand über seine Schreibunterlage.
»Ich muss Sie insofern enttäuschen, als ich keine genauen Auskünfte über Arne Hansen geben kann. Natürlich erinnere ich mich an ihn. Als Ruderer sowieso. Obwohl ich für den Leistungssport nicht mehr viel übrighabe. Der erinnert mich zu sehr an meinen Alltag in der Psychiatrie. Meine Frau und ich sind Wanderruderer. Ein sehr entspannendes Hobby.«
Er sah mich auffordernd an, aber ich hatte nicht die Absicht, mit ihm über seinen Sport zu sprechen.
»Verstehe. Arne war schließlich Ihr Patient.«
»Wenn man so will. Er saß vor vielen Jahren einmal vor mir. Wolfgang Alt, den ich als Kind gut kannte, hatte den Termin für ihn vereinbart. Ich war praktisch sein Entdecker. Der einzige Olympiasieger, der aus unserem Verein kam. Ein prima Kerl übrigens, heute Arzt.«
»Der schickt mich zu Ihnen«, sagte ich schnell.
»Hansen kam zweimal in meine Sprechstunde. Zum dritten Termin erschien er nicht mehr. Ich glaube mich zu erinnern, dass er weder abgesagt noch sich später entschuldigt hat. Aber das hat mich nicht gewundert. Solche Fälle lassen sich normalerweise nicht behandeln. Und – nur für den Fall, dass Sie jemandem einen Vorwurf machen wollen – ein Laie hätte nichts für ihn tun können, außer
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