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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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schon angekommen ist. Er ist da, oder jedenfalls ein Brief ist da – ein einsamer weißer Umschlag, der in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in dem engen Kästchen steht – und Blue hat keinen Grund zu vermuten, dass es ein anderer Brief ist als der seine. Dann beginnt er, langsam im Kreis umherzugehen, entschlossen zu bleiben, bis White oder jemand, der für White arbeitet, erscheint; die Augen auf die riesige Wand von nummerierten Fächern gerichtet, von denen jedes eine andere Kombination hat und ein anderes Geheimnis birgt. Menschen kommen und gehen, öffnen Fächer und schließen sie wieder, und Blue wandert weiter im Kreis herum, bleibt ab und zu an irgendeiner Stelle stehen und geht dann weiter. Alles erscheint ihm braun, so als wäre das Herbstwetter von draußen in den Raum eingedrungen, der angenehm nach Zigarrenrauch riecht. Nach mehreren Stunden wird er hungrig, aber er gibt dem Ruf seines Magens nicht nach, er sagt sich jetzt oder nie, und deshalb bleibt er auf seinem Posten. Er beobachtet jeden, der auf die Reihen der Schließfächer zugeht und konzentriert sich auf jeden, der in die Nähe von eintausendeins kommt, denn er ist sich der Tatsache bewusst, dass es, wenn White nicht selbst den Bericht abholt, jeder sein kann – eine alte Frau, ein kleines Kind, und deshalb darf er nichts als selbstverständlich hinnehmen. Aber keine dieser Möglichkeiten tritt ein, das Fach bleibt die ganze Zeit unberührt, und obwohl Blue nacheinander für jeden Kandidaten, der in die Nähe kommt, augenblicklich eine Geschichte spinnt und sich vorzustellen versucht, wie diese Person mit White oder Black in Verbindung steht, was für eine Rolle er oder sie in dem Fall spielen mag und so fort, muss er nacheinander wieder alle aus seiner Gedankenwelt entlassen und in die Vergessenheit zurückwerfen, aus der sie gekommen sind.
    Kurz nach Mittag, als sich das Postamt zu füllen beginnt – mit einem Strom von Menschen, die in ihrer Mittagspause rasch vorbeikommen, um Briefe aufzugeben, Briefmarken zu kaufen oder das eine oder andere Geschäft zu erledigen –, geht ein Mann mit einer Maske vor dem Gesicht durch die Tür. Blue bemerkt ihn zuerst nicht, weil so viele andere zur selben Zeit durch die Tür kommen, aber als sich der Mann von der Menge trennt und auf die nummerierten Schließfächer zugeht, erblickt Blue schließlich die Maske – eine Maske von der Art, wie sie Kinder zu Halloween tragen, ein abscheuliches Ungeheuer aus Gummi mit klaffenden Wunden auf der Stirn, blutunterlaufenen Augen und Reißzähnen. Ansonsten ist der Mann normal gekleidet (Mantel aus grauem Tweed, roter Schal um den Hals), und Blue ahnt in diesem ersten Augenblick, dass der Mann hinter der Maske White ist. Als er weiter in die Richtung des Fachs eintausendeins geht, wird die Ahnung zur Gewissheit. Gleichzeitig hat Black den Eindruck, dass der Mann nicht wirklich da ist, dass er, Blue, obwohl er weiß, dass er ihn sieht, vermutlich der Einzige ist, der ihn sehen kann. In diesem Punkt irrt sich Blue allerdings, denn als der Mann mit der Maske weitergeht, sieht Blue einige Leute, die lachen und auf ihn zeigen – aber ob das besser oder schlechter ist, vermag er nicht zu sagen. Der Maskierte erreicht das Fach eintausendeins, dreht das Kombinationsrad nach rechts und nach links und wieder nach rechts und öffnet das Fach. Sobald Blue sieht, dass dies eindeutig sein Mann ist, nähert er sich ihm langsam; er weiß noch nicht genau, was er tun will, aber insgeheim denkt er zweifellos daran, ihn zu packen und ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Doch der Mann ist zu wachsam, und sobald er den Umschlag eingesteckt und das Fach geschlossen hat, wirft er einen raschen Blick durch den Raum, sieht Blue auf sich zukommen und rennt auf die Tür zu, so schnell er kann. Blue läuft ihm nach und hofft, ihn von hinten fassen zu können, aber er gerät in ein Gedränge an der Tür, und als es ihm gelingt, sich frei zu machen, springt der Maskierte schon die Stufen hinunter, landet auf dem Gehsteig und rennt die Straße entlang. Blue folgt ihm, er holt sogar auf, aber dann erreicht der Mann die Ecke, wo zufällig gerade ein Bus an einer Haltestelle losfährt, und er springt auf, und Blue bleibt zurück und steht atemlos da wie ein Idiot.
    Zwei Tage später, als Blue mit der Post seinen Scheck bekommt, liegt endlich eine Nachricht von White bei. Keine komischen Sachen mehr, lautet sie, und obwohl das nicht viel ist, ist Blue glücklich, sie erhalten zu haben,

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