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Schlamm, Schweiß und Tränen

Schlamm, Schweiß und Tränen

Titel: Schlamm, Schweiß und Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bear Grylls
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heraufwinken. Zum ersten Mal würde der Berg mir gestatten, den Gipfel zu erklimmen und auf dem Dach der Welt zu stehen.
    Ich will meine Schritte bis zum Gipfel zählen, doch irgendwie
komme ich beim Zählen ganz durcheinander.
    Und da ich versuche, den wenigen Sauerstoff, der in meine Maske
strömt, möglichst tief einzuatmen, schnaufe und keuche ich mittlerweile wie ein Walross.
    Ganz gleich, wie viele erbärmlich langsame und schleppende
Schritte ich auch mache - irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich
dem Gipfel nicht einen Schritt näher komme.
    Doch mein Gefühl täuscht. Ganz allmählich rückt der Gipfel immer ein Stückchen näher.
    Dann merke ich, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Ich
bin so überwältigt, dass ich hemmungslos in meine Maske heule.
    All die Gefühle, die ich so lange zurückgehalten hatte, sind mit
einem Mal unaufhaltsam aus mir herausgebrochen.
    Mühsam kämpfe ich mich weiter voran.

     

Tief in mir drin hatte sich stets so ein leiser Hauch
des Zweifels gehalten - eine Stimme, die mir sagte, dass es absolut
unmöglich wäre, diesen Traum zu verwirklichen.
    Seit jenen Tagen, als ich mit gebrochener Wirbelsäule im Krankenhaus lag, hatte mir diese kleine zarte Stimme immer wieder zugeflüstert, dass dieses ganze Vorhaben blanker Wahnsinn wäre.
    Allerdings gab es auch Zeiten, da hat sich diese Stimme des Zweifels auch ziemlich laut und deutlich zu Wort gemeldet.
    Das lag wohl daran, dass zu viele Leute mir gesagt hatten, dass das
total verrückt wäre.
    Zu viele hatten mich ausgelacht und mir gesagt, dass das Ganze
nichts anderes wäre als pure Fantasterei. Doch je öfter ich diese Kommentare hörte, desto entschlossener wurde ich, mein Vorhaben in die
Tat umzusetzen.
    Aber nichtsdestotrotz waren diese Worte auf fruchtbaren Boden
gefallen.

    Folglich stürzte ich mich eifrig in die Arbeit, denn die geschäftige
Betriebsamkeit übertönt die Stimme des Zweifels - zumindest für
eine Zeitlang.
    Doch was passiert, wenn diese Betriebsamkeit plötzlich aufhört?
    Meine Zweifel haben die lästige Angewohnheit, sich regelrecht in
meinem Kopf einzunisten; sie sind selbst dann noch präsent, wenn ich
der Meinung bin, dass ich sie längst besiegt habe.
    Allerdings glaube ich, dass ich tief in meinem Innersten viel mehr
an mir gezweifelt habe, als ich es nach außen hin - sogar vor mir
selbst - zugeben wollte.
    Bis zu diesem Augenblick.
    Eigentlich habe ich mich seit meinem Krankenhausaufenthalt nur
noch danach gesehnt, wieder ganz gesund zu werden. Das heißt, nicht
nur körperlich wieder gesund zu werden, sondern mich auch seelisch
wieder sicher und aufgehoben zu fühlen.
    Verdammt, was sag ich. Im Grunde genommen habe ich mich
schon seit damals, als ich acht war und ins Internat musste, die ganze
Zeit über danach gesehnt, mich sowohl körperlich als auch seelisch
behütet und aufgehoben zu fühlen.
    Und genau jetzt und hier, auf 8.850 Metern über dem Meeresspiegel, während ich mich auf den letzten paar Metern Schritt für Schritt
vorankämpfte, spürte ich auf einmal, dass ich im Begriff war, körperlich und seelisch rundum gesund zu werden.
    Eine spirituelle Gesundung, die zuerst durch diese immense körperliche Anstrengung ermöglicht wurde und schließlich mit ihr Hand
in Hand ging.
    Ich hatte mein Seelenheil gefunden.

    Endlich, um 7:22 Uhr am Morgen des 26. Mai 1998 - während mir
ununterbrochen die Tränen über meine eiskalten Wangen liefen - öffnete der Gipfel des Mount Everest seine Arme und hieß mich willkommen.
    Ganz so, als würde der Berg mich nun für würdig erachten, diesen Ort zu betreten. Mein Puls raste und auf einmal überkam mich ein unbändiger Freudentaumel, denn ich stand auf dem Dach der
Welt.

    Alan umarmte mich und murmelte aufgeregt etwas in seine Sauerstoffmaske. Neil kämpfte sich noch immer durch den Schnee zu uns
herauf.
    Und kurz bevor er den Gipfel erreichte, verstummte der Wind
schlagartig.
    Mittlerweile ging die Sonne langsam über dem geheimnisvollen
Hochland von Tibet auf und tauchte die Berggipfel unterhalb von
uns in ein purpurrotes Licht.
    Auf dem Gipfelplateau angekommen, kniete Neil nieder und bekreuzigte sich. Danach knieten wir uns alle drei hin, nahmen unsere
Sauerstoffmasken ab und umarmten uns wie Brüder.
    Ich stand auf und ließ meinen Blick umherschweifen. Ich hätte
schwören können, dass ich von hier oben um die halbe Erdkugel
schauen konnte.
    Es schien so, als ob der rechte und linke Rand des

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