Schlamm, Schweiß und Tränen
Horizonts sich
nach unten biegen würden - das lag an der Erdkrümmung. Mithilfe
der Technologie kann der Mensch zwar auf dem Mond landen, aber
nicht auf dem Gipfel des Mount Everest.
Von diesem Ort ging wahrlich ein großer Zauber aus.
Plötzlich knackte das Funkgerät links von mir. Neil sprach ganz
aufgeregt hinein.
„Basislager. Hier geht's nicht mehr weiter, wir haben keinen Boden mehr unter den Füßen."
Die Stimme am anderen Ende des Funkgeräts überschlug sich vor
lauter Freude. Dann übergab Neil mir das Funkgerät. Seit Wochen
hatte ich mir schon zurechtgelegt, was ich sagen würde, wenn ich den
Gipfel erklommen hätte, doch dann löste sich das alles irgendwie in
Wohlgefallen auf.
Angestrengt sprach ich ins Funkgerät und plapperte drauflos,
ohne zu überlegen.
„Ich will einfach nur nach Hause."
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was danach geschah. Wir machten ein paar Fotos, auf denen sowohl die SAS-Fahne als auch - wie versprochen - die DLE-Fahne zu sehen war, die nun beide auf dem Gipfel im Wind wehten. Dann füllte ich noch etwas Schnee in eine leere Juice-Plus-Flasche, die ich bei mir hatte.*
Das war das Einzige, was ich vom Gipfel mitgenommen habe.
Ich kann mich noch vage daran erinnern, dass ich auch ein Gespräch - es wurde vom Basislager über eine Satellitenverbindung aufs
Funkgerät durchgestellt - mit meiner Familie geführt habe. Mit jenen
Menschen, die gut 5.000 Kilometer weit weg waren und die in mir
die Begeisterung fürs Bergsteigen geweckt hatten.
Doch die kostbaren Augenblicke, hier oben auf dem Gipfel zu stehen, vergingen wie im Flug, denn - genauso wie es bei allen anderen
unvergesslichen Augenblicken im Leben ist - gingen auch sie irgendwann zu Ende.
Wir mussten mit dem Abstieg beginnen, denn es war schon 7:48
Uhr.
Neil kontrollierte meine Sauerstoffreserve.
„Bear, Dein Sauerstoff geht bald zur Neige. Du solltest Dich besser
gleich auf den Rückweg machen, Kumpel, und zwar schnell."
Ich hatte schon gut vier Fünftel meines Sauerstoffs verbraucht,
also musste mir der Rest der Flasche reichen, um damit bis zum Balkon abzusteigen.
Ich schulterte meinen Rucksack und die Sauerstoffflasche, setzte
meine Sauerstoffmaske auf und machte mich auf den Rückweg. Der
Gipfel lag hinter mir. Ich wusste, dass ich ihn niemals wiedersehen
würde.
Nur wenige Minuten, nachdem ich den Gipfel hinter mir gelassen
hatte, machte sich ein Gefühl totaler Erschöpfung bemerkbar. Es lässt
sich nur schwer beschreiben, wie viel Energie allein für den Abstieg
notwendig ist.
Statistisch gesehen passieren die meisten aller Unfälle beim Abstieg vom Gipfel. Das liegt daran, dass für die Bergsteiger ab dem
Zeitpunkt, an dem sie den Gipfel erreicht haben, alles andere über haupt keine Rolle mehr spielt, und sie zudem von einem starken Verlangen getrieben werden, dass all ihre Qualen möglichst schnell ein
Ende haben.
Doch wenn die Konzentration erst einmal nachlässt, kann man
sehr leicht stolpern und abstürzen.
Bleib voll konzentriert, Bear. Reif Dich einfach noch ein wenig zusammen. Denn nur, wenn Du weiterhin konzentriert bleibst, wirst Du
den Balkon und die dort deponierten Sauerstoffflaschen erreichen.
Doch dann war plötzlich meine Sauerstoffflasche leer.
Ich geriet ins Stolpern - sank auf die Knie, stand wieder auf und
sank wieder auf die Knie. Die Welt um mich herum verschwamm wie
im Nebel.
Ich schaffe es. Ich schaffe es. Ich schaffe es.
Diesen Satz habe ich mir immer wieder vorgesagt. Immer wieder
und wieder. Es war eine alte Angewohnheit aus jenen Tagen während
der SAS Selection, wenn ich todmüde war. Ich murmelte diese Worte
vor mich hin, ohne es überhaupt zu bemerken.
Sie kamen einfach ganz tief aus meinem Innersten.
Dann endlich hatte ich es geschafft, doch ich war viel zu erschöpft,
um überhaupt so etwas wie Erleichterung zu spüren. Ich ließ mich
direkt neben der Stelle zu Boden fallen, wo wir beim Aufstieg am Balkon die Sauerstoffflaschen deponiert hatten.
Es tat so gut, frischen Sauerstoff zu atmen. Dabei atmete ich gierig
in tiefen Zügen. Auf einmal merkte ich, dass mir nicht nur langsam
wieder wärmer wurde, sondern dass ich auch wieder klar denken
konnte.
Jetzt war ich mir sicher, dass wir es schaffen können. Denn wenn
wir weiterhin so gut vorankämen, würden wir schon bald wieder am
Südsattel sein.
Während wir vorsichtig über die extrem steile Flanke aus Schnee
und Eis zum Südsattel abstiegen,
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