Schlamm, Schweiß und Tränen
konnten wir in der Ferne schon die
Zelte von Lager 4 erahnen, die immer deutlicher zu erkennen waren,
je näher wir kamen.
Es War schon ein eigenartiges Gefühl, als ich auf einmal weder Eis noch Schnee unter meinen Füßen spürte und die Zacken meiner Steigeisen mit einem schrillen Quietschen und Ächzen über das
Felsgeröll am Südsattel glitten.
Ich stützte mich bei jedem Schritt auf meinen Eispickel, um so auf
diesen letzten Metern das Gleichgewicht besser halten zu können.
Seit 18 Stunden hatten wir weder etwas getrunken noch etwas gegessen. Mein Körper und auch mein Geist fühlten sich irgendwie seltsam fremd an - sie sehnten sich beide nach einer erlösenden Pause.
Unter dem Vordach unseres winzigen, einwandigen Expeditionszelts streckte ich die Arme aus, um Neil noch einmal zu umarmen.
Danach bin ich - unvermittelt - zusammengesackt.
„Na los, Bear, vorwärts, Kumpel. Du musst schon richtig ins Zelt
reinkriechen. Bear, hörst Du mich?" Michaels Stimme sorgte dafür,
dass ich wieder zu Bewusstsein kam. Er hatte hier am Südsattel ausgeharrt und - bangend und hoffend - auf uns gewartet.
Ich kroch umständlich rückwärts ins Zelt. Mein Kopf dröhnte.
Ich musste unbedingt etwas trinken. Immerhin hatte ich seit über 24
Stunden nicht gepinkelt.
Neil und Alan waren eine ganze Weile damit beschäftigt, ihre
Ausrüstung und den Klettergurt abzulegen. Keiner von uns brachte
mehr die Energie auf, auch nur ein Wort zu reden. Michael hatte
den Kocher angeworfen und gab mir etwas Warmes zu trinken. Ich
war unendlich erleichtert, ihn und Geoffrey wohlbehalten wiederzusehen.
Als der Nachmittag vorüberging und es langsam Abend wurde,
fingen wir an zu reden.
Ich hatte nicht ganz verstanden, warum Michael und Geoffrey
kurz vor dem Balkon umgekehrt waren. Dann haben sie mir ihre Geschichte erzählt - von dem heraufziehenden Gewittersturm und von
ihrer zunehmenden Erschöpfung, die ihnen den Aufstieg in dem tiefen Pulverschnee und der dünnen Luft immer schwerer machte. Die
Entscheidung den Rückzug anzutreten, hatten sie auf der Grundlage
ihrer fundierten Bergerfahrung getroffen.
Eine gute Entscheidung. Denn sie waren am Leben und wohlauf.
Wir dagegen waren kontinuierlich weiter aufgestiegen. Dabei hatten wir unsere Entscheidung auf das berühmte eine Prozent Wagemut
gestützt. Doch wir hatten großes Glück, weil der befürchtete Gewittersturm unter uns vorbeigezogen war.
Unser Wagemut hatte sich ausgezahlt - dieses Mal zumindest.
Aber das ist nicht immer der Fall.
Denn beim Bergsteigen kommt es in erster Linie darauf an, stets
ganz genau zu wissen, wann man etwas wagen kann und wann es sicherer ist, den Rückzug anzutreten. Das war mir durchaus bewusst.
Als wir uns später darauf vorbereiteten, unsere letzte Nacht in der
Todeszone zu verbringen, sprach Michael mich noch einmal an. Er
sagte etwas zu mir, was ich bis heute nicht vergessen habe. Denn aus
ihm sprach die weise Stimme eines Bergsteigers, der auf 20 Jahre
Berg- und Klettererfahrung in den unberührten kanadischen Rocky
Mountains zurückblicken konnte.
„Bear, ist Dir eigentlich bewusst, welches Risiko ihr Jungs dort
oben eingegangen seid? Das hatte meiner Meinung nach mehr etwas
mit Waghalsigkeit zu tun als mit gesundem Urteilsvermögen." Er lächelte und schaute mir fest in die Augen.
„Mein Rat: Ab jetzt solltest Du die Risikobereitschaft in Deinem
Leben einen Tick zügeln - dann wirst Du es weit bringen. Dieses Mal
hast Du überlebt - jetzt solltest Du zusehen, dass Du dieses große
Glück auch entsprechend nutzt."
Ich habe diese Worte niemals vergessen.
Am nächsten Tag, als wir über die vergletscherte Lhotse-Flanke
absteigen mussten, hatte ich das Gefühl, als würde der Abstieg genauso lange dauern wie der Aufstieg.
Dann endlich, nach sechs langen, unglaublich kräftezehrenden
Stunden hatten wir das Western Cwm erreicht und Neil und ich
quälten uns erschöpft die letzten paar Meter über das Gletschereis zu
Lager 2.
In jener Nacht habe ich tief und fest volle zwölf Stunden durchgeschlafen - so lange, bis Neil kurz vor Morgengrauen anfing, unruhig
herumzuhantieren.
„Mensch, Bear, lass uns doch aufbrechen, okay? Das ist die letzte
Etappe. Ich kann einfach nicht schlafen, wenn wir schon so nah am
Basislager sind", sagte Neil ganz aufgeregt, wobei die Worte, die aus
seinem Mund kamen, in der kühlen Luft quasi einen Miniatur-Kondensstreifen hinter sich her zogen.
Meine Augenlider
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