Schlamm, Schweiß und Tränen
durchzuhalten.
Ungefähr hundert Meter unterhalb des Südgipfels stießen wir auf
die Fixseile, die von unserem Expeditionsteam beim ersten Versuch
der Gipfelbesteigung dort angebracht worden waren. Sie vermittelten
mir zumindest einen Hauch von Sicherheit und Geborgenheit, während ich mich hinunterbeugte und den Karabiner meines Expresssets
einklinkte.
Vom Südgipfel aus sind zwar noch immer ungefähr 150 Höhenmeter bis zum eigentlichen Everest-Gipfel zu bewältigen, aber wenn man
es bis hierher geschafft hat, dann hat man ein wichtiges Etappenziel erklommen. Für mich war daher klar, dass ich - wenn ich den Südgipfel
erreichen würde - zum ersten Mal eine reale Chance hätte, den Gipfel
zu ersteigen und ganz oben auf dem Dach der Welt zu stehen.
Neil war relativ schnell wieder dicht hinter mir. Alan hatte bereits
den obersten Rand des Südostgrats - den Südgipfel - erreicht und
während er sich ein paar Minuten ausruhte, um wieder etwas Kraft zu
schöpfen, hockte er zusammengekauert und vornübergebeugt da, um
sich vor dem Wind zu schützen.
Vor mir konnte ich das letzte Stück des berühmt-berüchtigten
Gipfelgrats erkennen, eine schmale und extrem ausgesetzte überwechtete Traverse, die zum Hillary Step hinaufführt - eine fast senkrechte,
mit Schnee und Eis bedeckte Felsstufe, die das letzte große Hindernis
auf dem Weg zum Hauptgipfel darstellt.
Sir Edmund Hillary - der erste Bergsteiger, der den Gipfel des
Mount Everest erklommen hat - sagte einmal, dass der Berg ihm eine
unbändige Willenskraft verliehen hätte. Eigentlich hatte ich diesen
Satz nie so richtig verstanden - bis jetzt. Denn diese ungeheure Faszination, die von diesem Berg ausging, zog mich unweigerlich in ihren
Bann.
Tief in meinem Innersten spürte ich, dass ich es schaffen könnte.
Die letzte Etappe auf dem Gipfelgrat schlängelt sich steil bergauf
über eine sehr gefährliche und extrem ausgesetzte ungefähr 120 Meter lange Traverse. Dieser Grat ist der ausgesetzteste auf unserem Planeten, denn die Bergflanken stürzen zu beiden Seiten des Grats jäh in
die Tiefe - auf der einen Seite im Osten liegt Tibet, auf der anderen
im Westen Nepal.
Wir kämpften uns mühsam diesen messerscharfen, vereisten Gipfelgrat entlang, mit jedem Schritt kamen wir dem Hillary Step ein
Stückchen näher.
Diese Steilstufe wäre jetzt das letzte große Hindernis, das wir auf
unserem Weg zum Gipfel noch überwinden müssten.
Während ich mich Schritt für Schritt weiter hinaufkämpfte,
peitschte der Wind so heftig über den Grat, dass er das Fixseil vor mir
hin- und herfegte.
Damit ich beim Aufstieg auf diesem stark überwechteten Grat - die
Schneeverwehungen hingen rechts sehr weit über den Grat hinaus -,
mein Gleichgewicht besser halten konnte, stützte ich mich bei jedem
Schritt auf meinen Eispickel.
Auf einmal sauste mein Eispickel kerzengerade durch die Schneeoberfläche, während ein Teil dieser Schneeverwehung nachgab und
neben mir wegbrach.
Ich stolperte, konnte mich aber schnell wieder fangen und habe
mich schleunigst von der Abbruchkante wegbewegt.
Wir kamen langsam, aber stetig voran auf diesem ausgesetzten
Wechtengrat, dieser quasi frei in der Luft hängenden Brücke aus Eisund Schneekristallen. An der Stelle, wo ein Teil dieser Schneeverwehung weggebrochen war, konnte ich hinunterschauen und tief unten
in der Ferne das tibetische Hochplateau erkennen.
Wir stapften immer weiter, machten einen Schritt nach dem anderen.
Langsam, aber beständig.
Immer weiter dem Gipfel entgegen.
Immer höher hinauf.
Kurz Unterhalb des Südgipfels konnte ich die Mulde
erkennen, wo Rob Halls Leiche gefunden wurde. Er war hier oben vor
gut zwei Jahren ums Leben gekommen.
Sein Leichnam war zwar zur Hälfte unter einer Schneeverwehung
begraben, aber ansonsten unverändert. Erstarrt im ewigen Eis, war er
gleichsam ein eindrückliches Mahnmal, dass jeder Gipfelstürmer den
Abstieg nur überlebt, weil der Berg dies zulässt.
Doch wenn der Berg sich gegen einen wendet, bricht die Hölle los.
Denn je weiter man sich hinaufwagt in die Todeszone, desto unkalkulierbarer wird das Risiko.
Inzwischen hatten wir uns so weit in die Todeszone vorgewagt,
wie es nur möglich war.
Das war mir allzu bewusst.
Robs letzte Worte an seine Frau Jan lauteten: „Bitte mach Dir
nicht allzu viele Sorgen."
Dies waren die tapferen Worte eines Bergsteigers, der die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt hatte und wusste, dass er
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